Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin, der auch zu Risikoethik forscht, hat kürzlich in einer Fernsehdiskussion interessante Gedanken zum Umgang mit der Coronakrise gesponnen.
Nachfolgend ein paar Auszüge aus der Live-Diskussion (wodurch sich sprachliche Unkorrektheiten erklären):
„Wir wissen vieles nicht … Seriöse Schätzungen [der Letalität] variieren um den Faktor 10, zwischen 0,3 und 3 [Prozent] gegenwärtig. […] Also wir wissen wichtige Daten nicht. […] Aber […] manches wissen wir. […] Z.B. Italien hat untersucht, wieviele sind gestorben an COVID-19 ohne Vorerkrankungen. Und zwar gravierende Vorerkrankungen, also Diabetes mellitus, akuter Krebs, usw. Und die Zahlen, ganz seriös, ja […] sind wirklich auffällig: es sind nur 0,8% aller mit COVID-19 […] Verstorbenen .. ohne einer dieser, oder mehrerer dieser, massiven Vorerkrankungen […] Wenn es uns gelänge, die Menschen mit diesen Vorerkrankungen zu schützen, würde schlagartig die Letalität um den Faktor 100 sinken. […]“
„Sozugsagen doppelt smart wäre zu schauen, erstens, wie senken wir die Letalität, wie vermeiden wir Todesopfer und schwere Krankheitsverläufe, in dem wir die schützen, die wirklich gefährdet sind. Während die 20-Jährigen, 30-Jährigen, 40-, 50-Jährigen in ganz seltenen Fällen betroffen sind […] und wir bräuchten eigentlich diese Menschen in der aktiven Bevölkerung, damit wir dann dieses Gesundheitsproblem insgesamt bewältigen […] Nur dass ich nicht missverstanden werde: ich kritisiere die jetzigen Maßnahmen nicht. Die waren wahrscheinlich nötig, um dem Gesundheitssystem Zeit zu geben. […] Muss man irgendwann mal darüber reden, warum waren wir nicht vorbereitet (Sars, Mers, Schweinegrippe … es ist schwer verständlich). […] Aber jetzt müssen wir von einer allgemeinen Maßnahme, die alle gleichermaßen betrifft, unabhängig vom Risiko, zu spezifischen, smarten Maßnahmen übergehen (unter Einsatz auch von digitalen Optionen). […]“
„Es geht [nicht um Altersdiskriminierung, sondern] darum, dass man Menschen, die besonders schutzbedürftig sind, besonderen Schutz angedeihen lässt. Das machen wir sonst auch. Wir versuchen doch, Menschen die Hilfe benötigen, mehr Hilfe zu geben als denen, die keine Hilfe benötigen. Also ein bisschen Vorsicht mit den Begriffen. Ich hasse auch den Ausdruck „Social Distancing“ […] Wir brauchen im Augenblick Nähe, wir brauchen soziale Nähe, wir brauchen Anteilnahme, Empathie – auf keinen Fall Social Distancing! Das ist das Letzte, was wir brauchen können […] Also Vorsicht mit den Begriffen. Und wenn von Isolation, umgedrehter Isolation, Diskriminierung, Altersdiskriminierung die Rede ist – Vorsicht! […] Ich bin der Meinung jeder übernimmt letztlich selber die Verantwortung für sein eigenes Leben, unabhängig vom Alter. Unbedingt! (Das müssen wir vielleicht mal vorübergehend einschränken, weil das Gesundheitssystem sonst nicht passt, aber wenn ein 90-Jähriger sagt ‚ich will jetzt die letzten Lebensmonate im Freien verbringen und ich geh das Risiko ein‘, dann muss man das auch aushalten können, dass das geschieht. Deshalb bin ich da gegen Zwang). […]“
„[Das ungehindert laufen lassen,] das geht auf keinen Fall [auch weil das Gesundheitssystem es so nicht erträgt]. Aber dann muss man schon genau hinschauen. Und ich find’s sehr gut, dass jetzt wieder offen diskutiert wird. Am Anfang hieß es ja, Zeit für Diskussionen haben wir jetzt nicht, es ist nicht die Zeit für Diskussionen, wir müssen einfach abwarten… Nein! Es ist in der Demokratie immer Zeit für Diskussionen und wir haben immer Alternativen und wir müssen über diese Alternativen reden. […]“
„Es gibt nur 2 Möglichkeiten: […] Man kehrt zurück zu dem, was am Anfang eigentlich nur gut funktioniert, Containment auf Englisch. D.h. man schaut, dass man alles wieder unter Kontrolle bringt. Die Infektionswege, alles – das geht nur mit digitalen Tools, die wir gegenwärtig nicht anwenden in Deutschland. Massiv. […] Wenn Containment nicht gelingt […], dann müssen wir einen anderen Weg einschlagen, nämlich dass wir die, die wirklich gefährdet sind, schützen, und die Ökonomie und das Soziale wieder hochfahren. Das Interessante ist: auf meinen Vorschlag kamen vor allem Alte, die sagten ‚Endlich sagt’s mal jemand! Wir machen uns Sorgen um die Entwicklung der Gesamtgesellschaft. Ich bleibe gern zu Hause, wenn wir wieder die Schulen öffnen können und wenn die Ökonomie wieder in Gang kommt, damit ich mir keine Angt machen muss um die Zukunft dieser Gesellschaft.‘ […]“
„Und eines ist völlig klar: 12 oder 18 Monate eine massiv reduzierte ökonomische Aktivität führt zu einer Depression, nicht mehr nur zu einer Rezession, über zwei Quartale kein Wachstum, sondern zu einer tiefen Depression. Das haben wir einmal gehabt, 1929, und man erinnert sich, was das für Folgen hatte. Und das betrifft ja die ganze Welt, betrifft ja nicht nur Österreich und Deutschland, vielleicht noch Inseln der Seligen […] Wir brauchen eine Strategie, die sowohl Menschenleben rettet, und die Verluste minimiert, als auch erlaubt, die Ökonomie und das soziale Leben wieder hochzufahren. […] Und ich bitte das nicht von vornherein zu blockieren, indem man sagt ‚auf keinen Fall dürfen unterschiedliche Risikogruppen unterschiedlich behandelt werden‘ – wenn man das als Dogma nimmt, dann kommen wir nicht raus aus diesem Dilemma. […]“
(Julian Nida-Rümelin, Philosoph und ehemaliger Kulturstaatsminister in Deutschland, in „Talk im Hangar-7“ vom 16.04.2020, Servus TV)
Von Berichten seitens Erkrankter aus dem eigenen Bekanntenkreis oder aus den Medien weiß man, dass die Erkrankung am neuen Coronavirus sehr unangenehm verlaufen (tagelang hohes Fieber, Schweißausbrüche, starke Erschöpfung, Dehydrierung, etc.) und zu Lungenentzündung führen kann.
Jeder, der einmal Lungenentzündung hatte, weiß, wie unangenehm und gefährlich das ist. Und im Falle von COVID-19 wird zudem vermutet, dass der Virus die Lunge recht stark angreifen und so möglicherweise zu längerfristigen Lungenschäden führen könnte.
Dennoch geht der Virus anscheinend auch an vielen Menschen „spurlos“ und unbemerkt vorüber, so wie auch in der Grippesaison zum Glück nicht jeder an Grippe erkrankt.
Und während sich in der Grippesaison bekanntlich viele sehr (bzw. zu) sorglos verhalten (sich selbst und anderen gegenüber – man denke an jene, die aus einer gewissermaßen erwarteten Arbeitsmoral heraus halb oder ganz krank in die Arbeit gehen), wurden mittlerweile gegen die Ausbreitung des Coronavirus allein schon im freiwilligen, privaten Bereich recht strenge und wirkungsvolle Maßnahmen getroffen bzw. eingeübt (Hände waschen, nicht zuviel ins Gesicht greifen, Abstand von möglichen Risikogruppen halten, sich selbst bei verdächtigen Krankheitsanzeichen isolieren und ggf. melden, etc.).
Und ob allzu strenge Maßnahmen (und somit sehr wenige Erkrankte und Immune) überhaupt gut sind, ist derzeit unter Experten noch umstritten (man denke hierbei z.B. einfach an das eigene Immunsystem, das unter zu vielen Hygienemaßnahmen bekanntlich leidet, an die erhofften Vorteile durch ehemalige Kranke und folglich – hoffentlich – Immune, die den Virus – hoffentlich – zumindest eine Zeit lang nicht mehr verbreiten und somit gewissermaßen „blockieren“ können, an das Stichwort „Zweite Welle“, etc.).
Deshalb muss man in einer liberalen und nicht jugendfeindlichen Gesellschaft die Frage stellen (dürfen), ob es bspw. für junge und gesunde Leute (oder generell jene, die wie sonst auch im Sinne von Freiheit und Erlebnissen einfach ein gewisses Risiko einzugehen bereit sind) nicht (raschestmöglich wieder) möglich sein sollte, mit Freunden in eine Bar, auf ein Konzert, ein Clubbing oder gar auf Reisen zu gehen.
Das ist nicht nur schöngeistig, sondern speziell für junge Leute auch psychologisch und sozial (bzw. ggf. zur Partnersuche) wichtig. Und nicht alle jungen Leute teilen sich mit Risikogruppen einen Haushalt oder haben es mit Risikogruppen zu tun (stattdessen wohnen bekanntlich viele in WGs und verbringen momentan zudem die meiste Zeit mit Online-Learning).
Aber „selbst“ ältere Menschen bedürfen ab und zu einer geselligen, lustigen „Auszeit“ vom Alltag (das kennen wahrscheinlich viele z.B. von locker-lustigen Familienzusammenkünften, die meist offensichtlich allen anwesenden Altersgruppen wohltun – speziell die sonst oft einsamen Älteren vergessen dabei schnell auf Schmerzen, Sorgen – oder auch mal Müdigkeit und sonst übliche frühe Schlafenszeiten…).
Und natürlich ist die Gast-, Veranstaltungs- und Freizeitwirtschaft auch ein enorm wichtiger Wirtschaftsfaktor (auch indirekt bspw. als Attraktion für Touristen), den wir einstweilen mit Steuern und Schulden ersetzen müssen.
Dennoch scheint es momentan politisch sowie für einen großen Teil der Bevölkerung noch immer moralisch undenkbar, neben den dringendst nötigen finanziellen Freiheiten (wie jenen zu wirtschaften und zu arbeiten…) auch über angenehme, psychologisch und sozial wichtige Freiheiten, oder gar Vergnügungen, nachzudenken.
Dabei wären ein paar sozial-vergnügliche „Luxusgüter“ (die über das ebenfalls wichtige Öffnen eines Geschäfts, die Arbeit oder den nicht für alle vergnüglichen Sport hinausgehen) gerade in (bzw. nach) einer belastenden Zeit mit vielen Regeln, Herausforderungen, Ängsten und Entbehrungen wichtig.
Und wie der zitierte Philosoph es ebenso schon angedeutet hat: würde man die Alten (oder generell die Risikogruppen) fragen, ob sie wollen, dass andere (speziell junge Menschen) zu ihrem Schutz auf eine sinnvolle Tätigkeit und ein bisschen soziales Vergnügen zwischendurch verzichten müssen, würden sie dies womöglich verneinen. Denn auch wenn Politiker es den Menschen manchmal nicht zutrauen: im Großen und Ganzen sind sie großzügig, hilfsbereit und (dafür) auch manchmal ein bisschen – risikobereit.
Eine Antwort auf „Viele bestmöglich schützen anstatt alle weitgehend einschränken?“
Der zitierte Philosoph Julian Nida-Rümelin und andere bekannte Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen haben sich für eine rasche Beendigung des „Lockdowns“ ausgesprochen: „Die Krise kann sich jederzeit wieder zuspitzen, wenn wir zu unvorsichtig werden. Zugleich ist der Lockdown im Begriff, unser soziales, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu ruinieren. Wir müssen Gesundheit, Wirtschaft und Rechtsstaat gleichermaßen schützen. So, wie wir es derzeit angehen, laufen wir Gefahr, alle drei Ziele zu verfehlen.“ Man solle Maßnahmen auf Menschen mit Vorerkrankungen und Ältere über 65 Jahre konzentrieren, für die restliche Bevölkerung würde das Konzept des „Smart Distancing“ genügen, zu dem Hygiene- und Abstandsregeln, Masken sowie die Nachverfolgung von Kontakten zählten. Mehr dazu unter https://www.spiegel.de/politik/corona-raus-aus-dem-lockdown-so-schnell-wie-moeglich-a-00000000-0002-0001-0000-000170604448 sowie unter https://www.welt.de/vermischtes/live206935325/Corona-live-Palmer-und-Kekule-fuer-Strategiewechsel-bei-Lockdown.html