Die gute Seite der Arbeitslosigkeit

Auszüge aus einem auch von Radio Österreich 1 in einer Sendung über die "Zukunft der Arbeit" am 17.1.2006 ausführlich zitierten und gelobten Artikel aus dem Wirtschaftsmagazin brand eins:

"... Automation und Fortschritt, Wissensarbeit und Kapitalismus vernichten Arbeitsplätze. Und das ist gut so. ..." (brand eins 7/05, S. 50)
"... Jobs gibt es keine und auch nichts zu tun, was für irgendjemanden Sinn ergeben könnte. ..." (brand eins 7/05, S. 50)
"... All das spielt, wie gesagt, nicht in einer Irrenanstalt, sondern in Deutschland. ..." (brand eins 7/05, S. 51)
"... Was kostet es, haben zu wollen, was es nicht mehr gibt? In Eidelstedt und anderswo ist der Preis klar: die Würde. ..." (brand eins 7/05, S. 51)
"... Die drei Jungenten sind gewiss nicht faul. Aber sie kennen den Unterschied zwischen Arbeit und Tätigkeit, zwischen sturer Routine und kreativem Problemlösen. ..." (brand eins 7/05, S. 51)
"... Zu keinem Zeitpunkt des Industriekapitalismus, der seit fast zwei Jahrhunderten währt und der ohne Zweifel die meisten Beschäftigten aller Zeiten generierte, gab es so etwas Ähnliches wie Vollbeschäftigung für mehr als einige kurze, außergewöhnliche Jahre. Was die Arbeitswütigen meinen, umschreibt den Zeitraum von Anfang der fünfziger bis Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das ist die Zeit, die bis heute als unverrückbares Ziel dieser Gesellschaft beschworen wird: das deutsche Wirtschaftswunder. Es stützt sich allerdings auf 60 Millionen Tote, die Opferzahl des Zweiten Weltkriegs. ..." (brand eins 7/05, S. 51)
"... In der Welt der Arbeit ist nichts, wie es scheint. Arbeit, genauer: Erwerbsarbeit, galt den antiken Denkern als so ziemlich das Letzte. Man unterschied, wie heute wieder, Arbeit und Tätigkeit. Das eine sicherte die nackte Existenz und entsprang immer den Notwendigkeiten. Das andere hingegen beschrieb, was Menschen gern und freiwillig tun, selbst dann, wenn es besonderer Leistungen und Anstrengungen bedurfte. Bei den alten Germanen wurde das Wort für Knecht und Arbeit schließlich eins: orbu. Das englische Wort Labour hat seinen Ursprung im lateinischen labor. Labor heißt: Mühe. ..." (brand eins 7/05, S. 52)
"... Im Mittelalter gab es wenigstens 50 strikt arbeitsfreie Tage im Jahr. Anstrengenden Arbeitsphasen, etwa in der Erntezeit, folgten längere Abschnitte, in denen nur wenig gearbeitet wurde. ..." (brand eins 7/05, S. 52)
"... Das Ziel jeder Produktivitätssteigerung ist es, mehr Ergebnis mit weniger Aufwand zu erzeugen, von den Physikern auch Arbeit genannt. Automation ist die Folge intensiven Nachdenkens. Die logische Folge: Je mehr Kopfarbeiter schuften, desto weniger bleibt für Handarbeiter übrig. Das liegt daran, dass Kopf- oder Wissensarbeiter nahezu immer darüber nachdenken, welche Prozesse in der Entwicklung oder Produktion verbessert werden können. ..." (brand eins 7/05, S. 53)
"... Während also, ganz nach Plan, die alte Plackerei durch Technik, Fortschritt und Wissensarbeit beendet wird, haben all jene, die sich nicht mehr plagen müssen, ständig ein schlechtes Gewissen. ..." (brand eins 7/05, S. 53)
"... Und die Konsequenz daraus, dass mit Arbeit künftig kein Staat mehr zu machen ist, wird vom Establishment geleugnet. ..." (brand eins 7/05, S. 53)
"... Schlimm ist die aktuelle Lage nur, weil wir sie immer nur von einer Seite sehen: Ohne Erwerbsarbeit ist der Mensch kein Mensch. Dabei ist das Fiasko der Arbeitsgesellschaft nichts weiter als der Erfolg des Kapitalismus. Seine Fähigkeit, mit immer weniger Leistung immer bessere Ergebnisse zu erzielen, schafft Arbeitslosigkeit. Von Übel ist das nur, weil wir unsere wirklichen Siege nicht wahrnehmen. ..." (brand eins 7/05, S. 54)
"... Die Kräfte, die sich am Vollerwerbsmodell festkrallen, rechnen mit Wundern. Umverteilung der Arbeit soll das Schlimmste verhindern. Das ist schon oberflächlich betrachtet grober Unfug. Selbst in längst vergangenen Zeiten, als die meisten Menschen nur stupide, leicht einstudierbare Arbeit in Fabriken leisteten, ließ sich das kaum realisieren. Wenn Arbeit aber vor allem geistige Tätigkeit ist, also Wissensarbeit – wie sollte Umverteilung dann funktionieren? Durch Gehirntransplantationen? ..." (brand eins 7/05, S. 54)
"... Bereits vor einem guten Jahrhundert war diese Entwicklung absehbar und eine Lösungsidee auf dem Tisch. Im Jahr 1912 erschien ein Buch des österreichischen Ingenieurs und Schriftstellers Joseph Popper-Lynkeus, der unter den Intellektuellen aller Nationen für Furore sorgte. In mehr als 30 Sprachen übersetzt, formulierte Popper-Lynkeus darin seine Theorie von der „Allgemeinen Nährpflicht“, die nichts anderes besagt, als dass Teile der durch Automation erzielten Produktivitätsgewinne zu einer Grundsicherung aller Staatsbürger führen müssten. Die Idee eines an keine Bedingungen geknüpften Grundeinkommens, das mit minimalem bürokratischem Aufwand verteilt und zur Vermeidung der elementarsten Existenzsorgen dienen sollte, faszinierte etwa Albert Einstein, der im „Recht auf Arbeit“ nichts anderes erkennen konnte als das „Recht auf Zuchthaus“. ..." (brand eins 7/05, S. 54)
"... Ökonomen und Sozialwissenschaftler plädieren seit Jahrzehnten dafür, die vorhersehbaren Folgen der ausklingenden Arbeitsgesellschaft durch ein Grundeinkommen für alle Bürger abzufedern. Der Unterschied zur Sozialhilfe und ihre vielfältigen Erscheinungsformen ist einfach: Ein Grundeinkommen, auch Bürgergeld genannt, wird ohne Prüfung, bedingungslos sozusagen, jedem Staatsbürger zuerkannt. Es dient der Sicherung der Existenz. Es wird bezahlt wie ein Gehalt und ersetzt in fast allen bekannten Modellen die Vielzahl öffentlicher Almosen, die den Sozialstaat heute so heillos überfrachten. ..." (brand eins 7/05, S. 55)
"... Langsam sei die Voraussetzung geschaffen, dass sich die Energie verzehrenden Existenzängste und Nöte der Menschen in positive Bahnen lenken lassen: „Die Arbeitslosigkeit ist das Resultat eines riesigen Erfolges – des gelungenen Projektes, mit immer weniger Arbeit immer mehr zu produzieren. ... Der Druck, der auf Jugendlichen lastet, ist der Feind jedes Wagnisses. Die werden von allen Seiten angelabert, dass sie sich einen der wenigen noch verfügbaren Vollerwerbs-Arbeitsplätze erkämpfen sollen. Deshalb riskieren sie nichts. Sie haben Angst, unter die Räder zu kommen.“ ..." (brand eins 7/05, S. 56)
"... „Das kriegen die Leute kulturell nicht geregelt“, sagt er. Kein Zweifel: Nolte hält das Gros der Bevölkerung für faul und willenlos. Die Masse entwickle Engagement bestenfalls darin zu fordern – stets Neues und immer mehr. Druck und Zwang, meint Nolte, blieben zuverlässige Gesellen beim Aufbau eines neuen Wertekanons einer künftigen Erwerbsgesellschaft. Dazu gehört die Bereitschaft, in den vorhandenen Rahmen zu denken und zu parieren: „Die Formel 8-8-8 hat sich historisch enorm bewährt.“ Paul Nolte redet nicht über Kabbalistik oder esoterischen Zahlenzauber, sondern über die klassische Zeiteinteilung der Industriegesellschaft, der ordentlichen Welt von gestern. Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden pennen. Und dann wieder von vorn. Für Nolte ist das „eine anthropologisch logische Sache“. ..." (brand eins 7/05, S. 56)
"... Der Historiker steht mit dieser Meinung einer wachsenden Zahl von Ökonomen gegenüber, die im Konsum nicht das Problem, sondern die Lösung der Krise sehen. Genauer: in der höheren Besteuerung von Konsum aller Art. ..." (brand eins 7/05, S. 57)
"... Peter Glotz, der in den achtziger Jahren zu den schärfsten Kritikern eines bedingungslosen Grundeinkommens zählte, hat inzwischen Zweifel: „Ich weiß wirklich nicht, wie man ein Grundeinkommen, das den Namen auch verdient, finanzieren sollte. ..." Heute sieht er die Sache anders: „Kein Mensch würde nur auf die Grundsicherung vertrauen. Die würden schon weiterhin was tun.“ Doch ein Problem sei geblieben: „Keine Partei findet das gut. Denn an der Arbeit hängt auch die Macht der Parteien und Organisationen.“ Das Gerede von der Arbeit als einzigem Sinnstifter unserer Existenz ist ein „Herrschaftsinstrument“, wie Ralf Dahrendorf schon vor mehr als zwei Jahrzehnten erkannte: Nicht um die Arbeit gehe es den Machthabern, sondern um sich selbst, um die Möglichkeit, den Reichtum der Bürger so zu verteilen, wie es ihnen passt. Deshalb sind die Mächtigen um die Arbeit besorgt, sagt Dahrendorf: „Wenn sie ausgeht, verlieren die Herren der Arbeitsgesellschaft das Fundament ihrer Macht.“ ..." (brand eins 7/05, S. 57)
"... „Wenn wir so weitermachen, treiben wir das untere Drittel der Gesellschaft in Kriminalität und Chaos. Das wird vor allem auch für die ungemütlich, die etwas besitzen. Wollen wir die Leute, die in zehn, zwanzig Jahren bei Siemens arbeiten, mit Polizeischutz zur Arbeit bringen, damit sie nicht ausgeraubt werden?“ Es gehe vor allem auch um die Rechte der anderen. Das wichtigste Argument für ein Grundeinkommen ist nicht moralischer Natur – es ist schierer Egoismus, der Wille derer, die vorankommen wollen. Deshalb sprechen sich heute vor allem Marktbefürworter für ein Grundeinkommen aus: Es passt zum Kapitalismus. Es ist gut für den Markt. ..." (brand eins 7/05, S. 58)
"... „Vieles in der Debatte um ein Grundeinkommen ist einfach zu moralisierend. Natürlich hat niemand ein Recht darauf – woher sollte das auch kommen? Es geht mir um andere Fragen: Was nützt ein Grundeinkommen denen, die noch in der Erwerbstätigkeit sind, und was nützt es Unternehmen?“ Die nahe liegendste Antwort ist: eine weit billigere Sozialbürokratie als heute, bei der die Kosten für die Verwaltung zuweilen die der ausgezahlten Mittel übertreffen. Darüber hinaus könnte ein Grundeinkommen dafür sorgen, dass aus Mc-Jobs und Gelegenheitsarbeiten ganz normale, durchaus sozialverträgliche Tätigkeiten werden können. ..." (brand eins 7/05, S. 58)
"... Unser ökonomisches System ist ausgezeichnet für eine effiziente Produktion geeignet, für das Schaffen technischen Fortschritts, der allen nützt. Das Verteilungsproblem aber kann es weniger gut lösen. Der Markt und das Soziale gehören zusammen, als sich ergänzende Systeme, die man nicht vermischen sollte.“ Ein System entlastet ein anderes, von dem es letztlich lebt: „Die, die leistungsfähig sind, können sich voll und ganz auf ihre Leistung konzentrieren. Die Grundeinkommens- Bezieher wiederum müssen nicht einer Vielzahl an Unterstützungen hinterherlaufen, sondern können sich, wenn sie wollen, auf einen Arbeitsmarkt begeben, der diesen Namen verdient.“ Mehr Effizienz hilft aber vor allem, das Überleben jenes Faktors zu sichern, der im Sozialen eine so große Rolle spielt: der Moral. ..." (brand eins 7/05, S. 58)
"... Bleibt die Frage, was das kostet. Selbst wenn man nur das heute gesetzlich festgelegte Existenzminimum – 7664 Euro pro Jahr und Kopf – als Mindesteinkommen garantierte, machte das für 82 Millionen Bundesbürger die gewaltige Summe von 620 Milliarden Euro aus: rund 200 Milliarden mehr, als der Staat an Steuereinnahmen zusammenkratzt. Auf den ersten Blick scheint das vollkommen unfinanzierbar. Doch die gesamten Sozialausgaben der Bundesrepublik betragen bereits heute jährlich mehr als 720 Milliarden Euro. Zieht man davon die Aufwendungen für die Krankenversicherung ab, verbleiben 580 Milliarden Euro für Leistungen, die ein Grundeinkommen langfristig ersetzen könnte. ..." (brand eins 7/05, S. 59)
"... Wie verrückt dieses Dogma ist, wussten nicht nur Tick, Trick und Track. Schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts schrieb ein gewisser Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, ein kleines, kluges Buch über „Das Recht auf Faulheit“. ..." (brand eins 7/05, S. 59)
"... Der britische Mathematiker Bertrand Russell greift, fast 70 Jahre nach Lafargues Tod, in seinem Essay „Lob des Müßiggangs“ die Gedanken des Marx-Schwiegersohns auf. ..." (brand eins 7/05, S. 59)

Quelle: Lotter, Wolf (2005), "Der Lohn der Angst", in: brand eins, 7 (Titel: "Nie wieder Vollbeschäftigung!", Schwerpunkt: Arbeit), S. 50-59.

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