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Was uns Menschen verbindet

"Was uns Menschen verbindet" von Gerhard MedicusGastbeitrag von Michael Domanig

Bereits der Untertitel des neuen Buches von Gerhard Medicus – „Humanethologische Angebote zur Verständigung zwischen Leib- und Seelenwissenschaften“ – bringt das grundsätzliche, durchaus ambitionierte Anliegen des Autors auf den Punkt: Ausgehend von Charles Darwin und der Erkenntnis, dass die Evolution an Geist und Körper des Menschen ihre Spuren hinterlassen hat, entwickelt Medicus fundierte Beiträge zu einer Wissenschaftstheorie der Interdisziplinarität in den Humanwissenschaften: Sie alle hätten schließlich denselben „Untersuchungsgegenstand“ – den Menschen und seine Hirnleistungen. Und darum seien biologische und andere naturwissenschaftliche Grundlagen auch für die Kultur- und Geisteswissenschaften von großem Nutzen.

Im ersten Teil seines Buches stellt Medicus daher bewährte Denkansätze vor, die helfen könnten, die historisch gewachsene Spaltung zwischen Leib- und Seelenwissenschaften, also Natur- und Geisteswissenschaften (den „Streit der Facultäten“, wie es bei Kant heißt), zu überwinden. Dem Autor geht es darum, eine schulen- und fächerverbindende Basis zu erarbeiten, eine gemeinsame Grundlage für interdisziplinäres Erklären und Verstehen zwischen Disziplinen wie Biologie, Psychologie und Philosophie.

Als zentralen naturwissenschaftlichen Eckpfeiler definiert er dabei die Vier Grundfragen der biologischen Forschung nach Konrad Lorenz und Niko Tinbergen, also die Fragen nach „Verursachungen“ (Ursache-Wirkungs-Beziehungen in Verhaltensabläufen), individueller Lebensgeschichte, „Anpassungswert“ (Zweck einer bestimmen Verhaltensweise) und Stammesgeschichte. Das Wissen um die evolutionäre Entstehungsgeschichte bestimmter menschlicher Verhaltensweisen, so die Überlegung, ist für das Verständnis des Menschen insgesamt unverzichtbar. Stellt man diese Grundfragen nun einer zweiten Bezugsgröße, nämlich den einzelnen Systemebenen (von Molekül über Zelle, Organ, Individuum und Gruppe bis Gesellschaft) gegenüber, so ergibt sich ein tabellarischer Orientierungsrahmen, der dazu dienen soll, die Diskussionen zwischen verschiedenen Humanwissenschaften bestmöglich zu strukturieren.

Als geisteswissenschaftliche Eckpfeiler für seine Theorie der Interdisziplinarität stellt Medicus vier philosophische Konzepte vor: Dazu zählt etwa Karl Poppers entscheidende Erkenntnis, dass der Evolution, dem „Lernen“ der Gene durch Mutation und Selektion, und den Naturwissenschaften ein ähnliches Prinzip zugrunde liegt: In der Stammesgeschichte wie in den Naturwissenschaften werden Erwartungen (im Rahmen von von Mutanten/Theorien) ständig durch (praktische) Erfahrungen überprüft und verbessert. Nur Theorie und Empirie gemeinsam führen demnach zu Erkenntnisgewinn – womit die jahrhundertealte Kontroverse zwischen Empiristen und Rationalisten (die „reine“ Vernunftwahrheiten höher schätzten als das durch „irrende Sinne“ erworbene Erfahrungswissen) eigentlich obsolet ist. In diesem Sinne gelte es, so Medicus, auch die bis heute nachwirkende Spaltung der Humanwissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften – die der Autor im historischen Gegensatz zwischen Rationalisten und Empiristen begründet sieht – zu überbrücken.

Medicus tritt in seinem Buch dafür ein, das alte Denken in zwei Schubladen aufzugeben und dass „Netz des Wissens“ enger zu knüpfen, sodass auch die blinden Flecken, die jedes Weltbild aufweist, klarer erkannt werden können. Wer sich bei komplexen biopsychischen Fragen mit nur einer Antwort zufrieden gebe, obwohl andere Grundfragen offen bleiben, verzichte damit auf Wissen. Der Autor plädiert vielmehr für ein „Orientierungswissen“, das helfen soll, Detailwissen, Theorien, Disziplinen und Schulen miteinander zu vernetzen. Oder, einfacher formuliert: Er regt zu Expeditionen über die streng bewachten Grenzen der eigenen Disziplin und Fakultät hinweg an – und stellt dafür eben einen theoretischen Rahmen bereit.

Seinen Anspruch auf Interdisziplinarität löst Medicus im zweiten und dritten Teil seines Buches auch selbst ein: Er zeigt – aus der Sicht der Humanethologie bzw. vergleichenden Verhaltensforschung – die naturwissenschaftlichen Grundlagen vieler menschlicher Verhaltensbereiche auf, die auch und gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert werden: Stammesgeschichtliche Voraussetzungen der Moralfähigkeit oder des menschlichen Bindungsverhaltens kommen ebenso zur Sprache wie biologische Grundlagen der Geschlechterdifferenz, des Besitzstrebens, unser soziopolitisches Handelns oder von „opposed instincts“ wie Aggression und Aggressionshemmungen.

Das Buch nähert sich somit aus naturwissenschaftlicher Perspektive grundlegenden philosophischen Fragen: Was macht den Menschen zum Menschen? Was unterscheidet ihn von den Tieren? Hat der Mensch einen freien Willen? Wie viel ist genetisch vorherbestimmt, wie viel ist gelernt? Existiert der menschliche Geist für sich? Oder ist er „nichts als Physik und Chemie“? Liefert die Natur eine Richtschnur für unsere Moral? Können wir die Welt so wahrnehmen, wie sie ist? Antworten darauf können aus Sicht des Autors nur mithilfe von interdisziplinären Denkansätzen gefunden werden.

Das Interesse des Autors an solchen transfakultären Grundsatzdebatten ist wohl auch biograpisch begründet: Schon als Student der Medizin in Innsbruck begann er sich intensiv in die Verhaltensbiologie einzulesen – eine entscheidende Grundlage für seine langjährigen humanethologischen Vorlesungen an der Universiät Innsbruck, für seine Beiträge zum Lexikon der Biologie und für das vorliegende Buch. Sein beruflicher Werdegang führte ihn von der Medizin zur Biologie (Zusammenarbeit u. a. mit Rupert Riedl, Irenäus Eibl-Eibesfeld und Wulf Schiefenhövel, dazu humanethologische Studienaufenthalte in Afrika und dem pazifischen Raum) und wieder zurück zur Medizin. In seiner Tätigkeit als Facharzt für Psychiatrie wurde er wiederum mit der Spaltung in die eher geisteswissenschaftlich fundierte Psychotherapie und die naturwissenschaftlich fundierte „Kernpsychiatrie“ konfrontiert.

Ohne diese prägenden Erfahrungen wäre wohl auch das vorliegende Buch nicht entstanden. Ein Buch, das durch seinen interdisziplinären Ansatz und den breiten inhaltlichen Bogen für Natur- und Geisteswissenschafter gleichermaßen relevant ist. Damit ist es beispielsweise für Biologie- Psychologie- und Philosophielehrer nützlich, weil Medicus jene Grundlagen herausstreicht, die diese Fächer miteinander verbinden. Zahlreiche anschauliche Beispiele (gewonnen aus dem Tier-Mensch-Vergleich bzw. Kulturenvergleich) machen das Werk aber auch für Studenten und anderweitig Interessierte zur lohnenswerten Lektüre – eigentlich für jeden, der bestrebt ist, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken.

Gerhard Medicus
Dr. Gerhard Medicus ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Forscher wie Lehrender auf dem Gebiet der Humanethologie.

Gerhard Medicus: Was uns Menschen verbindet – Humanethologische Angebote zur Verständigung zwischen Leib- und Seelenwissenschaften, erschienen im VWB-Verlag 2013

„Ein faszinierendes Buch, das unsere tierlichen Spiegelbilder wissenschaftlich strukturiert und fundiert verständlich macht, damit die partielle Sonderstellung des Menschen prägnant herausarbeitet und so wichtige Erkenntnisse beisteuert zu der zentralen Frage, wer und was wir Menschen wirklich sind.“ (Helmut Pechlaner, 2012, Schönbrunner Tiergarten Journal 3: 18; Vetmed-Magazin 2: 32)

Die englische Ausgabe ist seit 2015 unter dem Titel „Being Human – Bridging the Gap between the Sciences of Body and Mind“ ebenfalls beim VWB-Verlag erhätlich. Hier ein interessantes Zitat aus dem Vorwort:

„To date, there is no comprehensive, unifying theory of psychology. The various subdisciplines, from psychoanalysis to the psychology of management and business, have their own theoretical underpinnings. It seems to me that Gerhard Medicus’ analytical concept lays the groundwork for a building in which all members of the family of psychology could feel at home.“ (Univ.-Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel)

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