Zusammenziehen und Ehe

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Zusammenziehen und Ehe

Beitragvon Redaktion » 11.04.2009, 12:58

{L_IMAGE}Gedanken einer Romanfigur in der Nacht vor ihrer Hochzeit:

"Ich werde nicht mehr alleine schlafen, außer ab und zu oder auf Geschäftsreise [...] Ab morgen, und wahrscheinlich während vieler Jahre, werde ich die Sehnsucht, Lisa zu sehen, nicht mehr haben können, weil ich sie bereits sehen werde, wenn ich die Augen öffne. Ich werde mich nicht fragen können, wie ihr Gesicht heute aussehen wird noch wie sie angezogen sein wird, denn ich werde ihr Gesicht gleich von Beginn des Heute an sehen und vielleicht werde ich sehen, wie sie sich anzieht. Es kann sogar sein, dass sie sich so anzieht, wie ich es ihr nahe lege, wenn ich ihr meine Vorlieben mitteile. Ab morgen wird es jene kleinen Unbekannten, die während fast eines Jahres meine Tage erfüllt haben, sie durch einen Zustand vager Erwartung und vager Unwissenheit bestmöglich lebbar gemacht haben, nicht mehr geben. Ich werde zuviel wissen, ich werde zuviel über Lisa wissen als ich über sie wissen will. Ich werde das, was mich von ihr interessiert, und das, was mich nicht interessiert, vor mir haben. Es wird keine Auswahl und keine Wahl mehr geben, die geringe oder minimale tägliche Wahl, die ein Anruf bei ihr, ein Verabredung, ein Treffen der Blicke auf der Suche nach der Türe eines Kinos oder zwischen den Tischen eines Restaurants oder das schön Herrichten und sich auf den Weg machen, um sich zu besuchen, bedeutete. Ich werde nicht mehr das Resultat, sondern den Prozess sehen, der mich vielleicht nicht interessiert. Ich weiß nicht, ob ich sehen will, wie sie sich die Strümpfe anzieht und an Taille und Leisten anpasst, und ob ich wissen will, wie viel Zeit sie morgens im Badezimmer verbringt, ob sie sich Nachtcremen aufträgt oder in welcher Stimmung sie ist, wenn sie aufwacht und mich an ihrer Seite sieht. Ich glaube, ich will sie in der Nacht nicht im Nachthemd oder Pyjama unter meiner Decke vorfinden, sondern ihr ihre Straßenkleidung ausziehen, sie ihres Aussehens berauben, das sie während des Arbeitstages hatte, und nicht jenes, das sie vor mir annimmt, allein in unserem Schlafzimmer, während sie mir vielleicht den Rücken zuwendet. Ich glaube, ich will diese Zwischenstufe nicht, wie ich auch, wahrscheinlich, nicht zu gut wissen will, welche ihre Mängel sind und, zwangsweise, welche im Laufe der Monate und Jahre auftreten und von denen die anderen Personen, die sie, die uns sehen werden, nichts wissen werden. Ich glaube, ich will auch nicht von uns reden, sagen wir sind gegangen oder wir werden ein Klavier kaufen gehen oder wir werden ein Kind haben oder wir haben eine Katze. Es kann sein, dass wir ein Kind haben werden und ich weiß nicht, ob ich das will, auch wenn ich mich nicht dagegen wehren werde. Andererseits weiß ich, dass ich sie gerne schlafen sehe, dass ich gerne ihr Gesicht sehe, wenn sie schläft oder lethargisch ist, gerne ihre süßen oder strengen, geplagten oder ruhigen, kindlichen oder gealterten Ausdrücke kennen lerne, die sie hat, während sie nicht handelt, während sie nicht einstudiert handelt, so wie wir es alle mehr oder weniger machen wenn wir vor Zeugen handeln, auch wenn uns der Zeuge nichts bedeutet und unserer eigener Vater oder unsere Frau oder Mann ist. Ich habe sie schon einige Nächte schlafen gesehen, aber noch nicht ausreichend oft, um sie in ihrem Schlaf zu erkennen, in welchem wir uns selbst am Ende oft nicht mehr gleichen."

Javier Marias in Mein Herz so weiß, aus dem Spanischen (Seiten 98 und 99 in dieser Ausgabe) übersetzt - und dabei u.a. den Namen Luisa auf Lisa eingedeutscht - vom Verfasser dieses Beitrags; der zitierte Roman aus Spanien (Madrid) hat einige Literaturpreise gewonnen und wurde vom deutschen "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki hochgelobt

Vergleiche:

Homa faber's Lust auf's Alleinsein
Honoré de Balzac zur Ehe
Gedanken über Liebe von einem Weisheitslehrer
Meinungen zu künstlich "ernsthaften" Liebesbeziehungen
Meinungen zu Online-Partnerbörsen



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