Der gedachte Gott

 

Auszüge aus dem Artikel "Gott im Kopf - Die Biologie des Glaubens: Was Religionen im Gehirn auslösen" im Profil (österreichisches Nachrichtenmagazin), Nr.17, 4/2003

 

Auszüge aus dem Hauptteil:

Andrew Newberg * zeichnet folgendes Bild: Man stelle sich, so der amerikanische Radiologe, einen Jäger in der Frühzeit der Menschheit vor, der auf der Suche nach Beute durch die Wälder streift. Plötzlich knackt ein Zweig im Unterholz, und sofort ist der Mann hellwach. Hirnforscher wissen, dass jetzt die Amygdala, eine Art Wächter im limbischen System des Gehirns, aktiviert wurde. Zugleich würde der Hippocampus, jenes Hirnareal, in dem Erinnerungen gespeichert sind, versuchen, das Geräusch mit Bedeutung zu besetzen: Es könnte ein harmloser Hirsch gewesen sein, der den Ast zerbrach – oder ein gefährlicher Leopard.
Newberg spinnt den Gedanken weiter: Man möge davon ausgehen, dass der Jäger die Flucht ergreift, weil er zur Überzeugung gelangt, ein Raubtier lauere im Gebüsch. Newberg: „Der Jäger musste nicht wissen, ob der Leopard real war. Es genügte, dass er es glaubte.“
Auf ganz ähnliche Weise, vermutet der 37-jährige Professor an der University of Pennsylvania, könnte Glaube entstehen.
Mit seinem Beispiel will er zumindest ein Indiz für eine evolutionäre Wurzel der menschlichen Neigung zu Glaubensprozessen im weitesten Sinne aufzeigen. Denn die durch die Annahme eines wilden Tieres ausgelöste Fluchtreaktion des Jägers „erhöhte seine Chance zu überleben“.
Vom Grundprinzip her vergleichbar könne es sich auch mit viel komplexeren Bedrohungen verhalten – etwa mit der Angst zu sterben und der Frage, ob dies die endgültige Auslöschung der menschlichen Existenz bedeute oder nicht. Ungewissheit münde stets in Angst, so Newberg, welche der Mensch bannen wolle. Bei fundamentalen Fragestellungen wie jener nach dem Tod würden „die erklärenden Geschichten, die der Geist hervorbringt, die Form des religiösen Mythos“ annehmen.

An die 100.000 Religionen soll die Menschheit Schätzungen zufolge bis heute hervorgebracht haben, und alles deutet darauf hin, dass die Neigung dazu schon in frühesten Zeiten bestand. Kult- und Grabstätten der Neandertaler gelten als Indiz dafür, dass sich bereits damals die Verwandten des heutigen Menschen intensiv mit den Geheimnissen des Daseins, des Todes und dessen möglicher Überwindung befasst haben müssen.
Was viele Forscher nun wissen wollen, ist: Warum? Ist der Glaube an Götter gewissermaßen biologisch im Menschen verankert? Gibt es gar, wie bereits heftig diskutiert wurde, eine Art „Gott-Modul“ im Kopf? Und wenn ja, hätte dies einen evolutionären Sinn? Half die Religion dem Menschen einst, sich in irgendeiner Art und Weise gegenüber Konkurrenten durchzusetzen? Oder ist religiöses Verhalten eine bloße Begleiterscheinung kontinuierlichen Gehirnwachstums?

Ergebnis des Versuchs: Newberg fand, nicht unähnlich seinem Kollegen Ramachandran, ungewöhnliche Abläufe im oberen Scheitellappenteil des Gehirns. Der Forscher bezeichnet dieses Areal als „Orientierungsfeld“, weil es unter anderem der räumlichen Orientierung des Menschen dient. Voraussetzung für diese Funktion ist die Fähigkeit, ein „Ich-Gefühl“ zu erzeugen, um zwischen Individuum, also dem Selbst, und der Außenwelt differenzieren zu können.
Während dieses Orientierungsfeld für gewöhnlich ziemlich rege ist, zeigte sich beim meditierenden Buddhisten ein erstaunlicher Effekt: nämlich ein drastischer Rückgang der Aktivität. Dies bedinge, so Newberg, nicht nur räumlichen Orientierungsverlust: Im Prinzip sei auf diese Weise die Grenze zwischen Selbst und Außenwelt aufgehoben. Bei sieben weiteren Versuchspersonen entdeckte der Forscher exakt dieselbe Reaktion – das Ego dieser Menschen schien sich beim Meditieren quasi aufzulösen. Die Frage, die sich derart erhebe, sei nun, ob es neuronale Schaltmechanismen ermöglichen, „mit einem tieferen geistigen Teil von uns selbst in Verbindung zu treten“.
Newberg hält dieses Aufweichen von Orientierung und Selbst für den biologischen Kern aller spirituellen Erfahrungen und erblickt in diesem Phänomen eine Art „Fenster zu Gott“. Was der Forscher an seinen Geräten beobachten habe können, decke sich dabei frappant mit teils jahrhundertealten Schilderungen so genannter „Einheitszustände“. Von der Verbindung mit etwas „Höherem“ ist da die Rede, vom „Versinken in göttlicher Einigkeit“ oder vom „puren, reinen Einen“. Im 16. Jahrhundert strebten Anhänger der Kabbala nach der „Auslöschung des Egos“.

Kognitiver Imperativ (komplett übernommen)

Wie sich nach Ansicht von Forschern aus Mythen und Ritualen Religion formen kann.
Als Gräber und Opferstätten von Neandertalern entdeckt wurden, in denen beispielsweise Bärenschädel aufgeschichtet waren, wurde dies als frühes Zeichen ritueller und religiöser Handlungen gedeutet – und als Indiz dafür, dass schon unsere entfernten Verwandten zur Einbettung ihres Lebens in mythische Zusammenhänge tendierten. „Der Mythos ist offenbar so alt wie der Mensch“, schreibt der Mythenforscher Joseph Campbell.
Für den Neurologen Andrew Newberg unterliegt der Mensch gar einem „Zwang zur Mythenbildung“, einem „kognitiven Imperativ“, der ihn antreibt, eine „große, beängstigende Sorge“ zu zähmen, welche sich „auf natürliche Weise nicht beruhigen“ lasse – die Angst davor, dass man irgendwann sterben wird. In Form von Mythenbildung versuche man, Antworten zu finden, und wenn Menschen Mythen miteinander teilen, fördere das Geborgenheit und Selbstvertrauen im Rahmen sozialer Gruppen. Dabei zeigen Vergleiche von Mythen, dass sich die darin enthaltenen Motive, nahezu unabhängig von der jeweiligen Kultur, immer wieder ähneln – etwa Totenreich, Wiedergeburt oder das Bestehen von Prüfungen in der Abgeschiedenheit der Wüste.
Ab einem gewissen Reifegrad von Mythen könne man, so Newberg, schließlich von Religionen sprechen – wobei dies keinesfalls mit Fabeln oder bloßen Geschichten verwechselt werden dürfe. Der Mensch sei aufgrund seiner Gehirnstruktur neurologisch besonders befähigt, Mythen zu erschaffen: Dazu sei die Scheitellappenregion erforderlich, die etwa auch das Sprachzentrum beherbergt. Weil einzig der Mensch einen entsprechend entwickelten Scheitellappen besitzt, halten auch andere Forscher Religiosität für ein bestimmendes Merkmal des Homo sapiens.
Und weil der Mensch weiters dazu neigt, Gedanken in Handlungen umzusetzen – eine simple Form davon ist das „Reden“ mit den Händen –, würden sich Mythen oft in Ritualen manifestieren. Erreichen diese Rituale eine besondere Form und werden sie von einer gewissen Anzahl Gleichgesinnter akzeptiert, könne man von religiösen Ritualen sprechen. Beispiele dafür sind Gesänge, besinnliche Gebete, strukturierte Gestik und wiederkehrende rhythmische Handlungen – oder, konkreter, zum Beispiel das Sakrament der Eucharistie oder die Meditation der Buddhisten. Und auf im Grunde dieselben Mechanismen sei es zurückzuführen, wenn sich Derwische im Kreis drehen, Mönche singen oder Moslems sich zu Boden werfen. Trotz aller Unterschiede seien gewisse Handlungsabläufe in vielen Gegenden der Welt ähnlich, was für gemeinsame biologische Wurzeln derartiger Muster spreche. Wesentliches Merkmal einer Religion oder Glaubensgemeinschaft sei jedoch stets, dass Rituale mit Sinn und Bedeutung verknüpft seien.
Bei besonders intensiver Beschäftigung könnten Rituale letztlich in mystischen Erfahrungen gipfeln – jenen Zuständen, die als „Vereinigung mit etwas Größerem“, „Befreiung des Geistes von weltlichen Einflüssen“ oder, bei islamischen Sufis, als „Ent-werden“ bezeichnet werden und durch komplexe neurologische Abläufe erklärbar sind. Allerdings, so behauptet Newberg im Gegensatz zu anderen Forschern: Mit bloßen Halluzinationen oder psychischen Leiden habe all dies nichts zu tun.

Hartnäckige Illusion (komplett übernommen; Hervorhebungen stammen von ob)

Hirnforscher und Philosophen versuchen das Ich im Menschen zu finden.
Der Schriftsteller Salman Rushdie beschreibt unsere Identität, die jedem viel bedeutet, doch wissenschaftlich kaum greifbar erscheint, als großes Flickwerk: „Das moderne Ich ist ein schwankendes Bauwerk, das wir aus Fetzen, Dogmen, Kindheitsverletzungen, Zeitungsartikeln, Zufallsbemerkungen, alten Filmen, kleinen Siegen, Menschen, die wir hassen, und Menschen, die wir lieben, zusammensetzen.“
Neuropsychologen und von ihnen inspirierte Philosophen haben sich in den vergangenen Jahren der schwierigen Frage nach dem Selbstbewusstsein angenähert. Das wundersame Phänomen gibt ihnen harte Nüsse zu knacken. Wie ist es etwa denkbar, dass alle Erlebnisse, die ich habe, meine sind – auf meinen imaginären Mittelpunkt hin zentriert? Warum gibt es ständig ein latent bewusstes Erleben der eigenen Person? Weshalb hören manche Schizophrene fremde Stimmen in ihrem Kopf?
Die erste Einsicht ins Räderwerk der Subjektivität ergibt eine simple Schau in unser Innenleben: Das Gehirn beherbergt kein einsames „Ego“, sondern viele Ich-Zustände. So handeln wir auf der Straße zuerst aus einem körperlichen Selbstbewusstsein heraus, in Gesprächen leitet uns das soziale Ich, bei einer Liebeserklärung steht das emotionale Selbsterleben im Vordergrund. Doch überragend fasst Subjektivität selbst noch diese bunte Vielfalt zusammen. Ein Grund für diese eigenartige Einheitlichkeit könnte sein, dass elektrische Schwingungen verschiedener zerebraler Regionen im Gleichtakt verlaufen. Doch wie daraus Selbstvertrautheit wächst, ist noch längst nicht erschöpfend geklärt.
Der Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen spricht dem Gedächtnis eine große Rolle bei der Konstitution des Ich zu – allen voran dem Arbeitsgedächtnis im Stirnhirn, der neuronalen Managementzentrale. Es hält kurz zuvor wahrgenommene Informationen parat und fordert, falls notwendig, gespeicherte Daten aus anderen Bereichen des Gehirns an – je nachdem, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet. Für den Augenblick schafft das ein Zentrum. Identität, die als dauerhaft erlebt wird, entsteht nach Roth womöglich erst aus der Erinnerung an unsere Handlungen. „Wer handelt, erlebt die Einheit verschiedenster Elemente seines Wesens: Selbsterfahrung, Wahrnehmung, Wollen, äußerliche Folgen.“
Solche Beobachtungen führen manchen Philosophen zur Behauptung, das Ich sei nur eine Illusion. Allen voran der in Mainz lehrende Neurodenker Thomas Metzinger, der Subjektivität evolutionsgeschichtlich erklärt: „Das Ich ist ein genialer Einfall von Mutter Natur. Das Gehirn erzeugt es, um sich besser in der Welt orientieren zu können. Wenn man ein Bild davon hat, wer man ist, woher man kommt und wohin man geht, ist es einfach viel leichter, zu reagieren, Pläne zu schmieden oder Entscheidungen zu treffen. Aber es gibt keinen inneren Kern, keine unsterbliche Substanz, die all dem zugrunde lägen.“
Die Neuropsychologie scheint diese Spekulation mitunter zu bestätigen – zum Beispiel im Falle von Schmerzen in amputierten Gliedern: Ein inneres Körperbild erzeugt dann zeitweilig den Eindruck, es wären alle Glieder vorhanden, obwohl sie es nicht mehr sind. Die fehlenden Sinneseindrücke werden durch Phantomschmerz kompensiert. Auch eine Erkrankung wie multiple Persönlichkeit stützt diese Sicht. Sie ist der Versuch des Gehirns, mit unterschiedlichen Situationen fertig zu werden, indem es sich für jede ein passendes Ich erschafft.
Vor diesem Hintergrund ist das Gehirn nur ein informationsverarbeitendes System, das aufgenommene Information, etwa den Blick aus einem Fenster, als neuronalen Zustand abbildet. In diese Weltwahrnehmung bettet das Hirn dann ein Modell von sich ein, ein Ich, um effektiver handeln zu können. Die Vorstellung eines substanziellen Ich entsteht nach Metzinger genau dann, wenn der Organismus dieses Selbstbild nicht mehr als solches erkennt, sondern für wirklich hält – wenn er sich sozusagen damit verwechselt. Aber erst so wird es richtig effizient.
Doch wenn es das Ich nicht geben sollte, was hieße das für die Würde des Menschen und die individuelle Verantwortlichkeit? Wenn ein Verbrecher behauptet, er sei niemand, wie hätte er also eine Tat überhaupt je begehen können? Metzinger gibt zu bedenken: „Wer einfach sagt, er sei niemand, ist ein Heuchler. Für die großen Heiligen und Mystiker mag das anders gewesen sein. Aber die meisten von uns sind eben keine Erleuchteten: Wir können dieser Illusion, jemand zu sein, nicht entkommen, auch nicht jener, ein autonom und frei handelndes Subjekt zu sein. Diese Illusion gilt für uns ebenso, wie für uns die durch das Gehirn geformte Wahrnehmung eines bewaldeten Hügels wirklich ist. So leicht entkommen wir der Verantwortung nicht.“

* In seinem Buch Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht. (Von Andrew Newberg, DAquili, Vince Rause)

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