Zum Thema Recht passende Textstellen:

 

Konrad Lorenz in: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit

Der Glaube an die Existenz eines von kulturgebundener Gesetzgebung unabhängigen Naturrechts ist aber offenbar von alters her mit der Vorstellung verbunden, dass dieses Recht außernatürlicher, unmittelbar göttlicher Herkunft sei.
...Struktur-Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Rechtssystemen der Welt...Für die tatsächlich relativ zahlreichen Übereinstimmungen wurden bisher hauptsächlich drei Erklärungen angeboten: eine metaphysisch-naturrechtliche [...], eine historische (Ideenaustausch durch Diffusion und Kontakt zwischen den verschiedenen Rechtssystemen, d.h. also durch Imitation erlerntes Verhalten) und eine ökologische (Anpassung an Umweltbedingungen bzw. Infrastruktur, d.h. also durch gemeinsame Erfahrung erlernte Verhaltensweisen). Dazu tritt nun in allerjüngster Zeit eine psychologische Erklärung des gemeinsamen "Rechtsgefühls" (Instinktbegriff!) aus typischen Kindheitserfahrungen, in direkter Berufung auf Freud...Wesentlich an dieser Neuorientierung ist die Erkenntnis, dass hier das soziale Phänomen "Recht" auf Individualstrukturen zurückgeführt wird, nicht umgekehrt wie in der traditionellen Rechtstheorie. Bedauerlich ist dagegen m.E. die fortdauernde Betonung erlernter Verhaltensweisen und die Vernachlässigung möglicher angeborener Verhaltensweisen im Recht. .. bin ich fest davon überzeugt, dass es sich bei diesem mysteriösen "Rechtsgefühl" (das Wort lässt sich übrigens weit in die ältere Rechtstheorie zurückverfolgen, aber ohne Erklärung) weitgehend um typisch angeborene Verhaltensweisen handelt.
...als wissenschaftlich feststehend können wir betrachten, dass die Art Homo sapiens über ein hochdifferenziertes System von Verhaltensweisen verfügt, das in durchaus analoger Weise wie das System der Antikörperbildung im Zellenstaat der Ausmerzung gemeinschaftsgefährdender Parasiten dient.
Auch in der modernen Kriminologie wird die Frage gestellt, welche Anteile kriminellen Verhaltens auf genetischen Ausfällen von angeborenen sozialen Verhaltens und Hemmungen beruhen und welche aus Störungen in der kulturellen Überlieferung sozialer Normen zu erklären sind...
Vor allem weiss die Kriminologie allzu gut, wie gering die Aussichten sind, sogenannte Gemütsarme zu sozialen Menschen zu machen. Dies gilt gleicherweise für gemütsarm geborene wie für solche Unglückliche, die nahezu dieselbe Störung durch Erziehungsmängel, vor allem durch Hostpitalisation erworben haben. Mangel an persönlichem sozialem Kontakt mit der Mutter während der frühesten Kindheit erzeugt - wenn er nicht noch Schlimmeres bewirkt - eine Unfähigkeit zu sozialer Bindung, deren Symptomatik äusserst ähnlich der einer angeborenen Gefühlsarmut ist...der alte Leitsatz des Arztes "Vorbeugen ist besser als heilen" gilt auch für seelische Störungen.
...ein geringer Schaden im Vergleich zu dem, den die Einstellung der heutigen öffentlichen Meinung zum Verbrechen schlechthin anrichtet: Die zur Religion gewordene Überzeugung, dass alle Menschen gleich geboren seien und dass alle sittlichen und moralischen Gebrechen des Verbrechers nur auf die Sünden zurückzuführen seine, die seine Erzieher an ihm begangen hätten, führt zur Vernichtung jedes natürlichen Rechtsgefühles, vor allem auch bei dem Ausfallbehafteten selbst, der sich voll Selbstbemitleidung als Opfer der Gesellschaft ansieht. 
Die öffentliche Meinung ist träge, sie reagiert erst nach langer "Totzeit" auf neue Einflüsse; außerdem liebt sie grobe Vereinfachungen, die meist Übertreibungen eines Tatbestandes sind. Deshalb ist die Opposition, die eine öffentliche Meinung kritisiert, dieser gegenüber so gut wie immer im Recht. Aber sie begibt sich, im Tauziehen der Meinungen, in extreme Positionen, die sie nie eingenommen hätte, wenn sie nicht die Gegenmeinung zu kompensieren getrachtet hätte. Bricht dann die bisher herrschenden Meinung zusammen, was sie ganz plötzlich zu tun pflegt, so schwingt das Pendel nach der ebenso Übertriebenen Extremstellung der bisherigen Opposition aus.
Zweifellos ist das "mysteriöse Rechtsgefühl", von dem P.H.Sand spricht, ein System genetisch verankerter Reaktionen, die uns gegen asoziales Verhalten von Artgenossen einzuschreiten veranlassen...Ganz zweifellos ist die Wahrscheinlichkeit krasser Fehlleistungen dieses unreflektierten Rechtsgefühles ebenso groß wie bei nur irgendeiner instinktiven Reaktionsweise.
Das "Mobbing", das so leicht zu Lynchjustiz führt, ist in der Tat eine der inhumansten Verhaltensweisen, zu denen normale moderne Menschen gebracht werden können. Es verursacht alle Grausamkeiten gegen die "Barbaren" außerhalb wie gegen die Minderheiten innerhalb der eigenen Sozietät, es verstärkt die Neigung zur Pseudo-Artenbildung im Sinne Eriksons und liegt sehr vielen anderen, der Sozialpsychologie wohlbekannten Projektionsphänomenen zugrunde, zum Beispiel der typischen Suche nach einem "Sündenbock" für eigenes Versagen, und noch vielen anderen, äußerst gefährlichen und unmoralischen Impulsen, die - für den Ungeübten intuitiv nicht unterscheidbar - in jenes globale Rechtsgefühl eingehen.
Die Ausschaltung des natürlichen Rechtsgefühls durch die heutige Tendenz zur absoluten Toleranz wird in ihrer gefährlichen Wirkung verstärkt durch die pseudodemokratische Doktrin, dass alles menschliche Verhalten erlernt sei. 
Wir wissen, dass das große Regulativ der verantwortlichen, kategorischen Frage sowohl erziehungsbedingte als auch genetische Unzulänglichkeiten sozialen Verhaltens nur innerhalb enger Grenzen zu kompensieren vermag. Wenn man biologisch denken gelernt hat und von der Macht instinktiver Antriebe ebenso weiß wie von der Ohnmacht aller verantwortlichen Moral und aller guten Vorsätze und wenn man zusätzlich noch einige psychiatrisch-tiefenpsychologische Einsicht in das Zustandekommen von Störungen sozialen Verhaltens hat, ist einem die Möglichkeit benommen, den "Delinquenten" mit jenem selbstgerechten Zorne zu verdammen, wie jeder gefühlsstarke Naive dies tut.

 

Konrad Lorenz in: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, Kapitel 6 (Angebot: Buch)

 

 

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7 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.

(Vom Richten: 7,1-5 Matthäusevangelium)

Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteil werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden. Gebt, dann wird auch euch gegeben werden. [...] Kann ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen?

(Vom Richten: 6,37 - 42 Lukasevangelium)

Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.

(Jesus zu der Menge, die nach altem Gesetz eine Ehebrecherin steinigen will, Johannes 8,7)

 

Textstellen aus der Bibel (Angebot: Buch)

 

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