Konrad Lorenz in Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit

So energisch ich im Folgenden den gefährlichen Irrtümern entgegentreten werde, denen sie [die rebellierenden Jugendlichen, Anm.] sich hingeben, so unmissverständlich sei hier festgestellt, dass sie keineswegs an einem Mangel an sozialen und moralischen Empfindens und noch weniger an Wertblindheit leiden. Ganz im Gegenteil: Sie haben ein ungemein richtiges Empfinden dafür, dass nicht nur etwas faul ist im Staate Dänemark, sondern dass in sehr viel größeren Staaten sehr vieles faul ist.

...ganz eindeutig mit der Absicht, die Mitglieder der anderen ethnischen Gruppen zu ärgern. Genau dies tun sehr viele selbstkonstituierte Gruppen rebellierender Jugendlicher, wobei es ganz erstaunlich ist, wie sehr sich bei ihnen – trotz angeblicher größter Ablehnung alles Militärischen – der Drang zur Uniformierung durchsetzt. (73)

Während dieser Phase (Pubertätszeit) beginnt sich der junge Mensch von den Traditionen des Elternhauses zu lösen, sie kritisch zu prüfen und Umschau nach neuen Idealen zu halten, nach einer neuen Gruppe, der er sich anschließen und deren Sache er zu der seinen machen kann. Der instinktive Wunsch, für eine gute Sache auch kämpfen zu können, ist für die Objektwahl ausschlaggebend, besonders bei jungen Männern. In dieser Phase erscheint das Altüberkommene langweilig und alles Neue anziehend, man könnte von einer physiologischen Neophilie sprechen.

Ohne allen Zweifel hat dieser Vorgang einen hohen Arterhaltungswert, um dessentwillen er in das phylogenetisch entstandene Programm menschlicher Verhaltensweisen aufgenommen wurde. [...] Wie bei allen festen Strukturen, muss auch bei der kulturellen Überlieferung die unentbehrliche Stützfunktion durch den Verlust von Freiheitsgraden erkauft werden, und wie bei allen anderen bringt der Abbau, der um jeder Umkonstruktion willen nötig wird, bestimmte Gefahren mit sich, da zwischen Ab- und Neuaufbau notwendigerweise eine Periode der Halt- und Schutzlosigkeit liegt. Dies ist beim sich häutenden Krebs und beim pubertierenden Menschen in analoger Weise der Fall.

 Normalerweise folgt auf die Periode der physiologischen Neophilie ein Wiederaufleben der Liebe zum Althergebrachten. Das kann ganz allmählich vor sich gehen, die meisten von uns Älteren können Zeugnis davon ablegen, dass man mit Sechzig eine weit höhere Meinung von vielen Anschauungen seines Vaters hat als mit Achtzehn. A. Mitscherlich nennt dieses Phänomen treffend den „späten Gehorsam“. Die physiologische Neophilie und der späte Gehorsam bilden zusammen ein System, dessen systemerhaltende Leistung darin liegt, ausgesprochen veraltete und neuer Entwicklung hinderliche Elemente der überlieferten Kultur auszumerzen, ihre wesentliche und unentbehrliche Struktur indessen weiter zu bewahren. (75)

Das Entwicklungstempo, das der heutigen Kultur von ihrer Technologie aufgezwungen wird, hat zur Folge, dass von dem, was eine Generation an traditionellem Gut noch besitzt, ein sehr beträchtlicher Teil von der kritischen Jugend mit Recht als obsolet erkannt wird.  ...Irrglaube, der Mensche könne eine neue Kultur willkürlich und rational aus dem Boden stampfen... (77)

Anerkennung rangordnungsmäßiger Überlegenheit ist kein Hindernis für Liebe. Die Erinnerung sollte jedem Menschen sagen, dass er als Kind solche Menschen, zu denen er emporsah und denen er sich eindeutig unterwarf, nicht weniger, sondern mehr geliebt hat als Gleichrangige oder Untergeordnete. [..] Es ist eines der größten Verbrechen der pseudodemokratischen Doktrin, das Bestehen einer natürlichen Rangordnung zwischen zwei Menschen als frustrierendes Hindernis für alle wärmeren Gefühle zu erklären. (78)

Wie ich schon .. auseinandergesetzt habe, befindet sich das Kind (einer „Non-frustration“-Erziehung) in einer der Rangordnung entbehrenden Gruppe in einer durchaus unnatürlichen Situation. Da es nämlich sein eigenes, instinktmäßig programmiertes Streben nach hoher Rangstellung nicht unterdrücken kann und selbstverständlich die widerstandslosen Eltern tyrannisiert, sieht es sich in die Rolle des Gruppenführers gedrängt, in der ihm gar nicht wohl ist. Ohne einen stärkeren „Vorgesetzten“ fühlt es sich schutzlos in einer durchaus feindseligen Welt...

Nur wenn man einen Menschen aus tiefstem Seelengrunde liebt und gleichzeitig zu ihm aufblickt, ist man überhaupt imstande, seine kulturelle Tradition zu seiner eigenen zu machen. Eine solche „Vaterfigur“ fehlt nun ganz offensichtlich einer erschreckenden Mehrzahl der heute aufwachsenden jungen Menschen. Der leibliche Vater versagt allzu oft, und der Massenbetrieb an Schulen und Universitäten verhindert es, dass ein verehrter Lehrer ihn ersetzt.

Zu diesen rein ethologischen Gründen, die elterliche Kultur abzulehnen, kommen nun aber bei vielen intelligenten Jugendlichen auch echt ethische. An unserer heutigen westlichen Kultur mit ihrer Vermassung, ihrer Verwüstung der Natur, ihrem wertblind-geldgierigen Wettlauf mit sich selbst, ihrer erschreckenden Gefühls-Verarmung und ihrer Verdummung durch Indoktrination ist fürwahr das Nicht-Nachahmenswerte so augenfällig, dass es allzu leicht den Gehalt an tiefer Wahrheit und Weisheit vergessen lässt, der auch unserer Kultur innewohnt. Die Jugend hat in der Tat triftige und rationale Gründe, sämtlichen „Establishments“ den Kampf anzusagen...Leider sind die nachdenklichen und aus rationalen Motiven handelnden jungen Leute die weniger gewalttätigen...Aus einer falsch verstandenen Loyalität sind die vernünftigen Jugendlichen offenbar nicht imstande, sich von den triebmäßig handelnden zu distanzieren. (80)

Es liegt im tiefsten Wesen des Menschen als des natürlichen Kulturwesens begründet, dass er eine voll befriedigende Identifizierung nur in und mit einer zu finden vermag. ...Objektwahl, die nach einer Gruppenzugehörigkeit lechzende Jugendliche nicht selten treffen. Alles ist besser, als gar keiner Gruppe anzugehören... (81)

Die gefühlsmäßige Erregung hemmt die rationale Leistung...Hass macht nicht nur blind und taub, er macht auch unglaublich dumm...Es wird schwer sein, ihnen beizubringen, dass das in der kulturellen Entwicklung Entstandene ebenso unersetzlich und ehrfurchtgebietend ist wie das in der Stammesgeschichte Gewordene, es wird schwer sein, ihnen beizubringen, dass eine Kultur ausgelöscht werden kann wie eine Kerzenflamme. (82)

 

Konrad Lorenz in: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973 (Angebot: Buch)

 

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Im Inhaltsverzeichnis verlinkte Textstelle

Arno Gruen in Der Wahnsinn der Normalität

Was hat es mit dem Rebellen auf sich, der in Wort und Tat alle Erscheinungsformen des Konformisten ablehnt? Er sucht das Bessere, den weg zur Menschlichkeit, betont sein Anderssein, um nur ja nicht angepasst zu erscheinen - doch auch er hat Züge der Gewalttätigkeit. (S 116)

(INTERPRETATION VON OB der Textstelle über Paula ab S 118 unten bis S 119 unten des Buches: Pro einer Rebellion durch Gefühle zulassen und dadurch Instabilität, im Sinne von nicht immer leistungsfähig sein im Gegensatz zur Stabilität des "starken" Rebellen und gefühllosen Konformisten. Wer sich für diese Textstelle interessiert, kann sie auf den entsprechenden Seiten in der verlinkten Buchausgabe nachlesen)

Arno Gruen über den "Kampf fürs Proletariat" bzw. über (linken als auch rechten) Terrorismus, u.a. am Beispiel des momentan populären Antonio Negri (Buch "Empire"), auf der Seite 126 des Buches (Auszüge aus der Textstelle):
Mit diesen orgiastischen Vorstellungen (Negris vom Kampf für's Proletariat, von dem er in seinem Buch 'Sabotage' schwärmt, Anm.) entfernt sich der Schreibende selbst sowie vermutlich seine Leser von den realen Folgen, die das mörderische Tun bei den Betroffenen hat. Durch diese Transformation verliert der Mörder völlig das Gefühl für Verantwortung... Antonio Negri wurde ganz offensichtlich vom Risiko als solchem erregt. Das erinnert an einen der Revolutionäre in Dostojewskis Roman 'Die Dämonen', über den er schrieb: "Er zog es vor, alles zu riskieren, nur um nicht in Ungewissheit zu bleiben". Unsicherheit ruft Angst hervor, und die macht uns sehr zum Risiko bereit. Negri romantisierte und sexualisierte das Risiko, um die Angst zu verbergen. Er maskierte die Angst und förderte damit den Mythos von der männlichen Stärke, die solche Gefühle nicht zulässt. Antonio Negris Bedürfnis für die Wärme der proletarischen Arbeitergemeinschaft enthüllt SEIN Bedürfnis nach Wärme; es ist eine Projektion, die er mit all den Intellektuellen teilt, die die Realität der Arbeitswelt nicht kennen.... Das einzig eindeutige an einem solchen Text ist, dass die Terroristen den Tod wollen, weil sie dem Leben mißtrauen und es hassen.

Gleichzeitig ist diese Destruktivität auch ein Hilferuf. Aber da die angepasste Welt nur Bestrafung kennt, reagiert sie nur auf die Rebellion, nicht auf den Hilferuf, und das auf völlig unangemessene Weise, die nur zu einem Anwachsen der blinden Zerstörungswut führt. (S 135)

Der totalitäre Geist ist besessen von der Notwendigkeit, in einer einfachen, klaren Welt zu leben. Alles Subtile, jeder Widerspruch, jede Komplexität erschreckt und verwirrt ihn und wird ihm unerträglich. Er versucht also, das Unerträgliche zu überwinden durch das einzige Mittel, das er in der Hand hat: die Gewalt. (Jacobo Timerman in 'Wir brüllten nach innen' laut Arno Gruen in 'Der Wahnsinn der Normalität', S 136)

"Wie kommen Leute wie du dazu zu meinen, sie wüßten alles... Wenn die Regierung ihre Politik festgelegt hat, warum glaubst du, es besser zu wissen? Ihr Intellektuellen lebt in einer Traumwelt, trotzdem meint ihr, alles besser zu wissen als die Leute, die alles bedacht und ihre Entscheidungen getroffen haben." Der Gefangene sagt plötzlich zu sich selber, diese Kreatur kann mich nicht wirklich treffen. Sie kann mich nicht retten, deshalb kann sie mich auch nicht zerstören. Diese Kreatur ist bedeutungslos, sie ist nicht real. Nur ich selbst bin die Realität. (Wole Soyinka, 1986 Literaturnobelpreisträger, der im Gefängnis saß, weil er eigenständig dachte, zitiert anfangs seine Peiniger, laut Gruen in 'Der Wahnsinn der Normalität', S 134)

Beide, der Konformist und der Rebell, benötigen einen äußeren Feind. Dieses Bedürfnis macht es oft unmöglich, zwischen wirklichen und halluzinierten Bedrohungen zu unterscheiden. Seit 1917 fürchtet der Westen die rote Revolution. Tatsächlich aber waren die westlichen Demokratien nach dem ersten Weltkrieg vom Faschismus, nicht vom Kommunismus bedroht. Dies wurde geleugnet, bis es zu spät war. [...] Konformismus verträgt sich mit jeder Ideologie. Er findet sich überall dort, wo Macht ist. Weder der Konformist noch der Rebell stehen in der Realität eines lebendigen Lebens. Weil sie sich nie als wirkliches Selbst geliebt haben, wissen sie nichts über Leben und Tod. Beide halten sich für unsterblich. Ihr Größenwahn nährt die Illusion einer überhistorischen Fortexistenz. Beide glauben weiterzuleben in den Monumenten, die sie sich gesetzt haben. Für den Konformisten sind es die steinernen oder eisernen Monumente der Mächtigen, denen er dient, für den Rebellen die eigenen "großartigen" Taten. (Gruen weist auf dieser Seite des Buches auch darauf hin, dass er mit dem Rebellen nicht den Revolutionär im Sinne Erich Fromms, der sein Bündnis mit der Autorität und die dazugehörigen Wünsche, andere zu beherrschen, überwunden hat, meint, Anm.) (S 137)

Sie wussten ganz im Gegenteil, dass Schmerz und Leid den Entschluss verstärken, sich NICHT zu unterwerfen. Solch eine Sehweise war aber den amerikanischen "Realisten" nicht möglich, denn ihre Realität war geprägt von den Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit mit der Macht hatten. Weil sie selbst als Kinder vor Schmerz und Demütigung in Anpassung geflüchtet waren, konnten sie sich andere Reaktionen gar nicht mehr vorstellen. (S 142)

"Der Kampf der Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen", schrieb Milan Kundera in seinem 'Buch vom Lachen und Vergessen'. Wenn ein solcher Kampf freilich gar nicht geführt werden kann, weil die offiziellen Informationen bereits entsprechend präsentiert werden, ist Erinnerung von vornherein nicht möglich... Das Paradoxe daran ist, dass wir in einer Welt leben, in der die Informationsdichte und Informationsgeschwindigkeit so hoch ist wie nie zuvor. Information ist verfügbarer denn je. Doch sie wird immer nur in Bruchstücken geboten, ohne die Verknüpfung mit dem Ganzen des Lebens. Also ist sie auch zu einer schnell verderblichen Ware geworden. Diese Schüler waren nicht deshalb ahnungslos, weil es ihnen an Informationsmöglichkeiten fehlte, sondern weil die verfügbare Information zusammenhanglos war und das Leiden ausklammerte. Darum konnten die Schüler nicht erkennen, dass die Ereignisse (in diesem Fall von Vietnam, Anm. ob) etwas mit ihnen selbst zu tun hatten. Menschen unter einem totalitären Regime sind weitaus wachsamer, weil sie sich die spärlich fließende Information mit großer MÜhe beschaffen müssen. (S 188)

 

Alle herausgeschriebenen Textstellen aus Der Wahnsinn der Normalität zu finden unter Gesammeltes/Anstößiges.

 

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Weitere Textstellen (ohne Inhaltsverzeichnis)

...nach Entdeckungszeitpunkt geordnet (ältere Texte zuerst). Aus Faulheit bzw. Zeitmangel werden wir nicht mehr jeden weiteren (neu hinzukommenden) Text direkt im Inhaltsverzeichnis verlinken! Vielleicht finden wir später irgendwann einmal Zeit dazu - oder ein Verleger :)

 

Österreicher seien "Duckmäuse" (oder so ähnlich), sie würden sich nicht auflehnen..., was möglicherweise am Fehlen von Revolutionen u.ä. in der Geschichte liege. Diese Theorie wurde von einer von Ö1 (im Radiokolleg vom 8.2.05) Interviewten aufgestellt. Das kann ich zwar in Gedanken an den "Mainstream" (v.a. auch an meiner Fakultät, verstärkt durch den Konkurrenzkampf) bestätigen, jedoch nicht in Gedanken an meine ehemaligen Mitschüler im Gymnasium, was vielleicht an der dortigen, kritischen Bildung lag. Ganz sicher jedoch sind wir (vielleicht aber nur oberflächlich) nicht weniger "widerständig" als Leute anderer Nationen - so schien es mir jedenfalls während des Auslandsaufenthalts, wo mir (abgesehen von der nach Franko eher flächeren, sozialen Hierarchie und den "spontaneren" Menschen in Spanien) beispielsweise Studenten aus Deutschland, Österreich und anderen mitteleuropäischen Ländern eher weniger unterwürfig vorkamen als beispielsweise aus Frankreich (Stichwort: Loyalität bzw. Nationalstolz).

 

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