Vorbemerkung von ob: Ein spekulativer (verträumter? visionärer?), jedenfalls kreativer Artikel mit Humor aber auch einer gewissen Ernsthaftigkeit. Hervorhebungen (durch Fettdruck) stammen von mir. Entdeckt habe ich den Artikel durch einen Verweis auf unserer Partnerseite plattform.org.

Artikel online. WOZ (Die WochenZeitung, Zürich) online.

 

 

Was kommt nach dem Kapitalismus?

Der 20-Prozent-Planet


 

P.M.

Hier ist die Aufgabe: Wie können wir mit 20 Prozent des heutigen Energieverbrauchs schöner leben? (Die ETH nannte das einmal die 1000-Watt-Gesellschaft.) Die Schweiz und der Planet verbrennen momentan fünfmal mehr Ressourcen, als nachhaltig möglich ist. Der Ökokollaps ist sozusagen vorprogrammiert. Vielleicht trifft er nicht mehr in meinem Leben (ich bin 55) ein. Aber irgendwann wird die Wirtin die Rechnung präsentieren. Greenpeace meint, 2050 sei es so weit.


I. Was Ärger macht

Angesichts des drohenden Wirtschaftskollapses scheint der Ökokollaps ein abstraktes, fast philosophisches Problem für WohlstandsbürgerInnen zu sein. Warum sich Sorgen über übermorgen machen, wenn es morgen schon zu Ende sein kann? Das Problem formuliert sich ganz einfach: Wenn wie in Argentinien plötzlich keine Noten mehr aus dem Bankomaten kommen, dann organisiert man sich halt anders. Wenn aber die Kartoffeln nicht mehr wachsen, dann ist alles aus.

Nie ging es in der Schweiz der Umwelt so gut wie heute (zumindest was die Schadstoffbelastung angeht) – obwohl die Ökobilanz katastrophal ist. Mit den Steuererträgen der global agierenden Banken konnten wir uns Kläranlagen leisten. In den neunziger Jahren wurden die verschiedenen Regionen des Südens der Reihe nach durch so genannte Finanzkrisen zum Ausverkauf ihrer Ressourcen gezwungen: zuerst Afrika, dann Südamerika, dann Asien, jetzt wieder Südamerika (wann kommt China dran?). Millionen von Arbeitslosen wurden aufs Land zurückgeworfen. Dort stellten sie fest, dass die Böden versalzt oder erodiert, die Wälder verbrannt oder abgeholzt, die Gewässer verschmutzt waren. In der Stadt kein Geld, auf dem Land kein Boden: die endgültige Erpressung. Das Geld, mit dem wir unsere Kläranlagen bauen, beruht auf dem Profittransfer, der dank dieser Ohnmacht möglich wurde.

Ökologie ist eine Machtfrage: Während die Reichen um ihre Pensionskassen bangen, reden nun plötzlich die Armen von Ökologie. Der Grund liegt in der Verlagerung umweltschädlicher, schmutziger Industrien in den Süden, sodass der Norden auf dessen Kosten «Nachhaltigkeit» importieren konnte (saubere Computer aus China). Die Zerstörung der Umwelt ist nicht nur ein Nebeneffekt der Industrialisierung, sondern eine ihrer Bedingungen. Nur wenn das Land unbrauchbar wird, kann die Lohnabhängigkeit voll durchgesetzt werden. Wer nicht mehr fischen kann, muss in die Fabrik.

Wenn wir also ganz harmlos von globaler Nachhaltigkeit reden (eben zurück auf 20 Prozent der Wirtschaftstätigkeit), dann kann das nur das Ende der heutigen Wirtschaftsweise, des real existierenden Kapitalismus, bedeuten. Nachhaltigkeit wollen heisst den endgültigen Wirtschaftskollaps nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern aktiv herbeiführen.


Was wegfällt

Fünfmal weniger Energieverbrauch bedeutet zuerst einmal das Ende der Automobilgesellschaft, der dazugehörenden Industrien, Suburbs, Motels, Siedlungsstrukturen, Shoppingcenter, Tourismusinfrastrukturen usw. Sodann können wir Flüge fast ganz vergessen. Schliesslich müssen wir auch die klimatisierten Gebäudevolumen pro Person drastisch reduzieren: weniger Büros, weniger Wohnraum. Das bedeutet nur noch 20 Prozent Arbeit, 20 Prozent Lohn usw. (Zum Vergleich: In Argentinien ist die Wirtschaftstätigkeit um 50 Prozent eingebrochen. Es ist immer noch ein wirtschaftlich blühendes Land im Vergleich zu einer 20-Prozent-Schweiz.)

Nun, wer nicht arbeitet, braucht auch kein Büro und auch kein Auto, um dorthin zu pendeln. Da heute schon die materiell notwendige Produktion höchstens 10 Prozent der ganzen Wirtschaftstätigkeit ausmacht (Landwirtschaft: 2 Prozent), führt diese Reduktion nicht zwingend zu Not und Armut. 80 Prozent unserer Arbeit besteht aus mehr oder weniger dubiosen Dienstleistungen und Dienstleistungen für DienstleisterInnen. Das Zählen von Gasmasken, das Ausrechnen von AHV-Renten, das Verwalten von Diktatorenvermögen, das Verspielen von Pensionskassengeldern, das Trösten von entlassenen CEOs – die Unkosten unserer Wirtschaftsweise machen sie praktisch ganz aus. Aber auch die/der immateriell Arbeitende fährt immer noch mit einer Tonne Metall und Plastik zur Arbeit hin und zurück. Er kühlt seine Computer, heizt sein Büro, belegt Parkplätze, produziert Mengen von bedrucktem Papier.


Was noch fehlt

Angst macht nicht so sehr der Wirtschaftskollaps als solcher. Es ist ja alles noch da: Land, Häuser, Strassen, Fabriken. Man wird uns auch nicht aus unseren Wohnungen jagen können. Was vielmehr Ärger macht, ist der Zerfall von Auffangnetzen, der Familien, der Freundschaftskreise, der Nachbarschaften, der Gemeinden, ja auch des Staates (wer bezahlt noch Steuern, wenn kein Geld mehr da ist?) Ja, wir organisieren uns anders – aber wo sind «wir»?

Wir haben uns so daran gewöhnt, «biografische Lösungen für systemische Widersprüche» (Ulrich Beck) zu suchen, dass inzwischen alle sozialen Formen, auch die dazu nötige Sozialkompetenz, zerfallen sind. Es ginge ja um mehr, als nur die Nachbarin um ein Ei oder etwas Salz zu bitten. Warum sollen die Verarmten sich gemeinsam mit wenig durchschlagen, wenn die Reichen immer noch ihre Dollarmillionen, Villen usw. haben? So sehr man die Initiative der argentinischen Nachbarschaftskomitees bewundern mag: Es gibt keine lokalen Lösungen für systemische Probleme. Es hat sich überall als unmöglich erwiesen, strukturelle Veränderungen nur von unten zu bewirken – es muss eine gesamtgesellschaftliche, ja globale Diskussion und Strategie geben, um eine transkapitalistische Gesellschaft einzurichten.

Die Frage ist nur, wo die dafür nötigen AkteurInnen sind. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass bei Systemwechseln die Anhänger des Alten sich vehement wehren, während die Gewinner des Neuen sich nur lauwarm einsetzen, weil sie ja noch nicht sicher sein können, ob es funktioniert. Auch das ist ein altes Problem.


Moral? Egoismus und Sportlichkeit!

Das Überleben zukünftiger Generationen und der armen Mehrheit von heute – zwei moralische Argumente für einen Neuanfang. Doch es geht auch um uns selbst, denn auch wir stellen fest, dass uns das heutige Wirtschaftssystem nicht gut tut. Depression ist eine Volkskrankheit geworden. Sicher können wir uns gegen den Protest oder «Ansturm» der Armen in Festungen einigeln und hie und da Kommandos zur Terroristenbekämpfung in die Peripherie aussenden. Vielleicht machen Krieg und Repression einigen sogar Spass. Möglicherweise beginnt der Ökokollaps weit weg in Afrika oder Asien, und wir können in der gegen Ökoflüchtlinge abgedichteten Schweiz noch hundert Jahre so leben wie heute. Man muss kein Moralist sein, um ein solches Leben ekelhaft zu finden. Die Welt, das Leben, unser Mut: Alles wird kleiner und kleiner. Langfristiger Egoismus genügt als Motivation für einen radikalen Wechsel.

Es wird auch langweiliger. Nachdem der Nordpol routinemässig besucht wird, der Mond sich als toter Felsbrocken herausgestellt hat (leider ist er nicht aus Käse), die Wissenschaft so gut wie alles Wichtige weiss, die Kunst im siebten Revival-Durchgang steckt, gibt es keine echten Herausforderungen mehr. Wenn wir den Kapitalismus schon nicht aus ökologischen oder egoistischen Gründen loswerden wollen: Wie wärs mit einem sportlichen? Ist nicht die Überwindung des globalen Kapitalismus das letzte grosse Abenteuer unserer Zeit? Es wäre eine echte Herausforderung: Das mächtigste System, das es je gab, verteidigt durch starke Ideologien (zum Beispiel Maggie Thatchers TINA: «There is no alternative»), Hightech-Armeen, allwissende Geheimdienste, abwiegelnde PolitikerInnen («Wir verstehen euch ja, aber ...»), hoch mobile globale Unternehmen ... Dagegen ist Sauron im «Herrn der Ringe» ein kleiner Giftzwerg. Wenn wir diesen Megathlon gewinnen, stehen wir am Schluss alle auf dem Siegerpodest. Auf die Plätze.




II. Das globale Modell




Manche wenden ein, dass es zu früh sei, jetzt schon über Alternativen zu spekulieren: Nach dem Kollaps würde uns dann schon das Richtige einfallen, die Kreativität des Volkes sei unbeschränkt. Nun, die Kreativität des Volkes ist jetzt schon da, und es gibt durchaus einen Feedback-Mechanismus zwischen den Wünschen für die Zukunft und dem Widerstand in der Gegenwart.


Pragmatismus als Programm

Eine andere Überlegung scheint mir auch wichtig: Jedes Milligramm Alternative, das wir heute einfädeln, wird in einer Krise eine Tonne wert sein. Es ist ja nicht so, dass die Agenten des globalen Kapitalismus ruhig zuschauen, wie ihr Schiff sinkt. In der Regel verwandeln sich Demokratien in Krisen in autoritäre Regimes oder zerfallen Rechtsstaaten zu Jagdgründen brutaler Mafias. Entstehende Alternativen können durch Gewalt sehr einfach erstickt werden. Heute haben wir noch die Chance, einige alternative Strukturen unter halbwegs demokratischen Bedingungen, ohne Gewalt und noch mit gewissen finanziellen Mitteln vorzubereiten.

Man könnte den Kapitalismus auch als den Kontrollverlust von Gesellschaften über ihre wirtschaftlichen Organisationen beschreiben. Diese Kontrolle muss an der Basis wiederhergestellt und dann global über gleichwertige Stufen aufgebaut werden.

Eine transkapitalistische Gesellschaft muss nachhaltig, global, demokratisch, egalitär-reziprok und offen sein. Ein monströses Gebilde wie die USA soll nicht mehr möglich sein, andererseits soll dort, wo öffentliche Strukturen nicht bestehen oder zersetzt wurden, ein abgestuftes System von formell organisierter gesellschaftlicher Souveränität entstehen. Macht misst sich am Organisationsgrad, dieser soll auf der ganzen Welt möglichst gleich sein.

Die Einheiten, die ich vorschlage, sind nicht administrativer Art, sondern entsprechen pragmatischen Gegebenheiten wie Kommunikation, Austausch zwischen Stadt und Land, Reichweiten von ökologisch tragbaren Verkehrsmitteln, geografischen und technischen Faktoren. Ich lasse den ganzen institutionellen Kram (wer wählt wen in welche Räte) weg: Es besteht hier ein ausreichendes Know-how. Notfalls kann man es einfach machen wie in der Schweiz. Beginnen wir also mit dem globalschweizerischen Alltag.




III. LMO - weniger haushalten!




Klein ist nicht immer beautiful: Wir brauchen neue Kooperativen einer gewissen Grösse, damit die ökonomischen (und ökologischen) Grössenordnungen stimmen.

Kommunikationsforscher haben herausgefunden, dass menschliche Gruppen bis zu 150 Mitgliedern informell kommunizieren und sich organisieren können. In informellen Organisationen leiden die Schwachen und erschöpfen sich die Starken. Also müsste unsere Kooperative um einiges grösser sein, damit soziale Klebrigkeit vermieden werden kann – jene üble Gemütlichkeit, die uns nicht dazu zwingt, uns bewusst zu organisieren. Wir brauchen also Einheiten von etwa 500 Individuen aller Altersgruppen. Ich nenne sie LMOs (Life Maintenance Organisations = Lebenserhaltungsgemeinschaften).

LMO sind keine Dörfer, keine verschworenen Gemeinschaften, schon gar keine Stämme: Sie sind Neugründungen mit dem Recht auf Ein- und Austritt und demokratische Mitbestimmung. Was macht eine LMO? Sie erhält das Leben ihrer Mitglieder. Das bedeutet Wohnen in möglichst kompakten, gut isolierten Gebäuden, Haushaltsdienstleistungen, Grundversorgung mit Lebensmitteln (Direktbelieferung durch assoziierte Bäuerinnen und Bauern der Region; zirka neunzig Hektaren pro LMO – in der Schweiz noch knapp vorhanden), Ausleihe von Möbeln, Kleidern, Medien, Werkzeugen; medizinische Grundversorgung; Betreuung von Behinderten, Jungen und Alten; ein paar Leihautos; Gästezimmer; Humidor; Weinkeller, Schmuckverleih und so weiter.

Eine LMO macht das Einkaufen, einen grossen Teil des privaten Haushaltens und den Gang zu vielen Dienstleistungen überflüssig. Daher der ökologische Effekt. Gemäss Ökobilanzberechnungen verbraucht ein Mitglied einer solchen LMO noch 1008 Watt Energie – also nicht nur Strom – pro Tag. Was die Frage aufwirft, wie wir diese letzten acht Watt, die uns vom Ökokollaps noch trennen, loswerden können.


Tod der bürgerlichen Küche

Diese Randbedingungen machen einen lustigen Abend mit Zigarre, Hummer, Chateaubriand, Trüffel, Champagner und Armagnac nicht unmöglich – aber nicht jeden Tag, sondern vielleicht einmal pro halbes Jahr. Das Rezept heisst nicht Verzicht, sondern neues Genussmanagement, das auf gleichen Chancen (Neid provoziert viel lustlosen Konsum!), Langsamkeit, Raffinesse, Echtheit, Geistesgegenwart, Gelassenheit basiert.

Punktueller Luxus ist ökologisch sinnvoll, denn er dient dem Frust- und Neidabbau und lässt uns lange Zwischenperioden bescheidenen Lebens erwartungsvoll überbrücken. Alle Kulturen kennen solche Anlässe, zum Beispiel als Potlatch, Massenschlemmereien, ruinöse Hochzeitsfeiern, ausartende Beerdigungen. Die ökologische Gefahr lauert bei der Normierung. Es ist von der Ökobilanz her besser, einmal im Jahr Gänseleber zu essen als jeden Tag Schnitzel. Tod der «bürgerlichen Küche»!

Die Idee bestünde also darin, in Spitzenrestaurants ein paar Mal über die Schnur zu hauen, aber zuhause, in den Nachbarschaften und Quartieren, eine weitgehend vegetarische, saisonal angepasste, regional produzierte Alltagsnahrung anzubieten. Wer nichts anderes will, ist vom Luxus dispensiert, soll aber dann nicht mit seiner Ökodepression hausieren. Was den Luxus bei Schmuck, Kleidern, Autos betrifft, so wären hier Ausleihstellen die beste Antwort. Im Schnitt würde man so mehr Diamantcolliers, Kaschmirmäntel und Rolls-Royces sehen als heute.


Schluss mit hilflosem Einzelbürgertum

Wichtig ist auch der soziale Effekt einer solchen erweiterten Haushaltung. Eine LMO gibt ihren Mitgliedern eine materielle, taktische Souveränität gegenüber makroökonomischen und politischen Schwankungen. Man kann sich effizient gegen autoritäre politische Anwandlungen wehren. Man ist für jeden Fall organisiert. Statt des isolierten, hilflosen Einzelbürgers entstehen hier jene Genossenschaften, auf denen unsere Demokratie ursprünglich beruht.

Das Mehr an Sicherheit, das die LMO verschafft, ist mit einer geringeren individuellen Freiheit verbunden. Das heisst nicht, dass es keine individuellen Rückzugsmöglichkeiten gibt, eine LMO ist ja keine Gross-WG. Doch wenn viele Dienstleistungen reziprok und als freiwillige Arbeit erbracht werden sollen, dann ist permanente Kommunikation und hohe Zuverlässigkeit erforderlich. Das heisst, es gibt viele Sitzungen, Verpflichtungen müssen ernst genommen werden, vielleicht braucht es sogar Sanktionen.

Global gesehen stellen Formen von LMOs (sie werden kulturell verschieden ausfallen) jenes «Empowerment» dar, von dem alle reden, wenn es um Lösungen des Armutsproblems im Süden geht. Das Fehlen von Trinkwasser beruht nicht auf Wassermangel, sondern auf einem Machtmangel lokaler Gemeinschaften gegenüber postkolonialen oder traditionellen Machtstrukturen. (Es ist kein Zufall, dass der Anfang der Antiglobalisierungsbewegung mit dem Angriff mexikanischer Truppen auf die «LMOs» der Bäuerinnen und Bauern von Chiapas zusammenfiel.)




IV. Die grossen Strukturen




Während die LMOs einen neuen, reichhaltigeren Oikos bilden, ist die Communal Area die Agora oder Polis, das heisst der erste politische Rahmen für gemeinschaftliche Unternehmungen von Wasserversorgung über Schulen bis zu öffentlichen Transporten. Demokratie ist in ihrem vollen Sinn nur für diese Grössenordnung (10 000 Menschen) tauglich: Nur in diesem Rahmen kann das «Volk» sich noch treffen und selber «herrschen». Alle grösseren Einheiten brauchen Delegationssysteme mit mehr oder weniger guten «checks and balances» und sind sehr anfällig für Machtmissbrauch.


Metropolis

Eine Welt vernünftiger Quartiere oder Kleinstädte wäre jedoch öde und spannungslos. Die Verstärkung metropolitaner Zentren ist das Gegengift gegen die Verzettelung von kulturellen oder technischen Unternehmungen in Agglomerationszonen. Die grossen Metropolen (über eine Million BewohnerInnen) bieten in der Tat kulturelle und soziale Möglichkeiten, die das Dorf nie erreichen kann.

Trotz ihrer blutigen Geschichte gibt es keinen Grund, sich ein gerechtes und umweltverträgliches Leben in diesen Metropolen (griechisch: «Mutterstädten») nicht vorzustellen. Aus den Global Cities des Überlebenskampfs aller gegen alle müssen solidarische und organisch gegliederte Metropolen entstehen. (Einige hoffnungslos parasitäre, pseudourbane Gebilde werden sich allerdings auflösen oder zerfallen.)

Die selbst verwalteten Stadtteile solcher Metropolen müssen Beziehungen mit der umliegenden Landwirtschaft aufbauen. Dass das möglich ist, zeigt die 15-Millionen-Stadt Shanghai, die jeden Morgen mit Frischgemüse aus der Region versorgt wird. Zur vollständigen Lebensmittelversorgung von einer Million Menschen braucht es unter mitteleuropäischen Bedingungen ein Agrarumland von zirka 2000 Quadratkilometern, das heisst einen Umkreis von etwa 25 Kilometern. (Im Falle von Zürich wäre es das Gebiet von Brugg, Zug, Rapperswil, Frauenfeld, Schaffhausen und wieder zurück nach Brugg, das heisst der Grossraum Zürich inklusive seiner landwirtschaftlichen Flächen.) Auf dieser Fläche werden ausschliesslich Frischprodukte angebaut. Für haltbare Lebensmittel und Spezialitäten ist ein Austausch bis auf subkontinentale und planetarische Ebenen weiterhin möglich und wünschbar.


Die Todesautobahn

Wir haben nun eine gemütliche Nachbarschaft, ein demokratisches Quartier und eine ziemlich aufregende Metropole in einer agrourbanen Region: Was ist dann aber mit Gebilden wie der Schweiz?

Wenn wir davon ausgehen, dass Ferntransporte hauptsächlich mit Eisenbahnen gemacht werden, dann ist jene geografische Region, innerhalb deren man am selben Tag irgendwohin fahren, etwas erledigen und wieder heimkehren kann, der nächste organisatorische Rahmen. Ob das nun zufälligerweise eine Nation, ein Bundesland, ein US-Staat sein wird, spielt keine Rolle. Meist wird dieses Territorium um die 50 000 Quadratkilometer gross sein und fünf bis zwanzig Millionen EinwohnerInnen haben.

Wenn der Autoverkehr wegfällt und alle anderen Sachtransporte auf vielleicht zehn Prozent der heutigen geschwunden sein werden, bleibt nur noch die reine, lustvolle Mobilität übrig. Das Strassennetz wird praktisch nur noch aus schmalen Fahrstrassen mit Ausweichstellen sowie einer Geschwindigkeitsbegrenzung von fünfzig Kilometern pro Stunde ausserorts und zwanzig Kilometern pro Stunde innerorts bestehen. Selbstverständlich kann es regionale, ja kontinentale Wanderwege mit Gratisherbergen alle zehn Kilometer geben. Auch werden transkontinentale Luxuszüge den Flugverkehr ersetzt haben. (Wir könnten auch, wie Robert Walser, einfach von Zürich nach Genf rennen.)

Damit es nicht allzu brav und risikolos zu und her geht, gibt es dazu die A1+: Als einzige Autobahnstrecke bleibt die A1 von Zürich nach Genf erhalten. Sie wird völlig dereguliert: keine Geschwindigkeitsbeschränkung, keine Verkehrsregeln, keine Polizei. Die A1+-Teilnehmer kaufen in Zürich oder Genf ein Auto und verzichten bis zur Ankunft auf alle Versicherungsleistungen, zudem deponieren sie eine Entsorgungsgebühr. Kommen sie lebend an, verkaufen sie das Auto an andere TeilnehmerInnen, bekommen das Depot zurück und können ihren Enkeln erzählen, wie sie im Jahre 2008 die «Todesautobahn» geschafft haben, obwohl zwei Ferraris und drei Porsches von der Seite und von hinten angegriffen hatten.


Nicht ohne Hightech

Eine brennende Frage blieb bisher ausgeklammert: Was geschieht mit der Hightech-Produktion? Schon ein Velo ist ein extrem komplexes Industrieprodukt und kann nicht mit den Ressourcen der meisten autonomen Territorien hergestellt werden. Ganz zu schweigen von Pharmaprodukten, Elektronik, Kunststoffen usw. Ein LMO kann sich zwar eine Weile selbst mit Lebensmitteln versorgen, doch wenn die Elektronik des ersten Traktors ausfällt oder es keine Pillen gegen Bluthochdruck mehr gibt, dann wird das Leben grimmig.

Mit sieben Milliarden ErdbewohnerInnen ist die Rückkehr ins Mittelalter oder in die Steinzeit (leider!) nicht mehr möglich. Während wir auf einen grossen Teil mittlerer Technologien verzichten können, brauchen wir einige strategische Hightech-Produkte. Dieses Problem ist weniger ökologischer als machtpolitischer Art: Wer diese Produkte kontrolliert, hat eine immense Erpressungsmacht – die spüren wir heute ja jeden Tag. Es ist auch so, dass Hightech-Produktion nicht sozial «eingebettet» werden kann in LMOs oder Territorien, weil sie Bestandteile, Rohstoffe und SpezialistInnen aus der ganzen Welt versammeln muss. Sie kann nicht als «Gemeinwerk» organisiert werden wie etwa die Strassenreinigung.

Diese technologische Zusammenarbeit kann nur auf der Ebene von Kontinenten oder Subkontinenten stattfinden, zum Beispiel Westasien (wir müssen uns endlich damit abfinden, dass Europa ein Teil Asiens ist). Es wird in Westasien nur noch eine Motorwagenfabrik, ein grosses Pharmawerk, ein Elektronikunternehmen, einige wenige Stahlwerke, ein Werk für synthetische Rohstoffe geben. (Es ist unübersehbar, dass das Kapital mit all seinen Fusionen sich heute schon in diese Richtung bewegt. Die altmarxistisch/hegelianische These, wonach die Arbeiter nur Widerstand zu leisten brauchen, um den Kapitalismus über sich selbst hinaus und in den Kommunismus zu treiben, vergisst allerdings, dass die Ökosphäre und unsere Nerven kaputtgehen könnten, bevor wir dieses Rendez-vous mit dem Weltgeist erreichen.)


Schaffen wir kapitalistische Inseln

Damit sowohl die nötige Flexibilität wie auch eine Kontrolle garantiert ist, werden diese subkontinentalen Werke als AGs (von LMOs, Territorien) konstituiert und funktionieren auf normale kapitalistische Art: Sie suchen sich LohnarbeiterInnen, bezahlen Löhne, verkehren mit der Bank (eine andere AG), machen Businesspläne, zahlen Steuern, verkaufen ihre Produkte an die, die sie brauchen und bezahlen können. Diese Industrien gehören also den KonsumentInnen, genauso wie die Migros (zumindest theoretisch), die ja deswegen nicht weniger gut funktioniert als der private Denner. (Die Hightech-Werke dürfen auf keinen Fall den ArbeiterInnen gehören: Das würde zu einem wilden Betriebsegoismus führen.)

Die ArbeiterInnen sind Angestellte der KonsumentInnen – was gute Arbeitsverhältnisse nicht verhindert. Die Hightech-Branche gehört zu jenen 20 Prozent Industrieproduktion, die es immer noch gibt. Sie bildet eine Form von stagnierendem Kapitalismus, der sich ja für die Aktionäre vor allem dadurch rentieren muss, dass die Produkte nützlich, haltbar und ökologisch verträglich sind.

Hightech-Betriebe können nur bestehen, wenn die Arbeitenden eine strenge industrielle Disziplin einhalten. Wenn man sich auf Technologien wie zum Beispiel Flugzeuge einlässt, dann muss man auf demokratische Diskussionen im Cockpit verzichten. Das Gleiche gilt für viele industrielle Prozesse oder spezialisierte Tätigkeiten (zum Beispiel Herzoperationen). Die demokratische Diskussion kann darüber geführt werden, ob man sich darauf einlässt. Wenn es beschlossen ist, so müssen notwendigerweise autoritäre Strukturen ertragen werden, die aus der Natur der Sache kommen. (Mit der Reduktion dieser Bereiche schwinden zum Glück auch diese selbst auferlegten autoritären Inseln.)

Heute wird die industrielle Disziplin zu einem grossen Teil durch monetäre Motivationen und Sanktionen erzeugt (lohnwirksame Qualifikation und ähnlicher Mist). Doch diese greifen immer weniger. Viele beklagen heute einen Generationenwechsel von der alten, gewissenhaften Arbeiterschaft zu den neuen, unzuverlässigen, flexiblen Angestellten. Obwohl sie früher weniger verdienten, war die Disziplin doch besser. Der Grund dafür ist, dass die alten Facharbeiter insgeheim daran glaubten, in einer sozialistischen Gesellschaft die Betriebe übernehmen zu können. Diese Disziplin ist in den letzten Jahren durch willkürliche Entlassungen, «Flexibilisierung», arrogante und überforderte Manager, kalte Profitmaximierung zerstört worden. Wenn also die Hightech-Werke wieder direkt in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden und diese auch eine Kontrolle über sie ausübt, dann wird industrielle Disziplin wieder möglich, dann ist eine Identifikation der Arbeitenden mit Prozessen, Produkten und Technologien plausibel.


umu – das Geld

Alle natürlichen Ressourcen gehören allen ErdbewohnerInnen gemeinsam. Das gilt für das Wasser der Alpen genauso wie für das Erdöl im Irak. Es stimmt also nicht, dass die Schweiz ein armes Land ist, weil es keine Bodenschätze hat. Es hat seinen Anteil – die Frage ist nur, wie es ihn beziehen kann (vor allem, wenn der Finanzplatz verschwunden ist). Geht man von dieser Voraussetzung aus, so kann man absehen, wie schwierig die Aufgaben der planetarischen Organisation sein werden. Share everything – play fair. Eine entspannte Diskussion über die Verteilung der Ressourcen ist nur denkbar, wenn alle ErdbewohnerInnen ihr Leben würdig (nicht unbedingt gleich) führen können und wenn die Basis von LMOs, autonomen Territorien usw. eine vergleichbare Souveränität gewährleistet.

Abgesehen von der Verteilung der Ressourcen, die etwa so geschehen kann wie bei uns die Zuteilung der Zahl der Kühe auf die Alp, sodass diese nicht überweidet wird (wenn diese Innerschweizer Grinde das schafften, dann geht es auch weltweit), sorgt die planetarische Organisation auch für die Durchlässigkeit des Planeten für Menschen, Ideen und ein bisschen Geld. Für den geschrumpften Bereich der Geldwirtschaft wird eine neutrale Weltwährung (wie wärs mit umu = universal monetary unit? Besser als globo!) geschaffen, herausgegeben von der Universalbank (uba).

Am einfachsten wird der umu garantiert durch einen Güterkorb, der wiederum in den Filialen einer universalen Mikromarktorganisation (mimo) erhältlich ist. Mimo gehört natürlich der uba. Die mimo-Betreiber sind Angestellte der uba, also keine KleinhändlerInnen – es gibt nichts Schlimmeres als kleine LadenbesitzerInnen (Ludwig Hohl). Die mimos kann man sich vorstellen als Migros-Filialen der frühen fünfziger Jahre (fünfzig haltbare Produkte). In jedem Quartier/Dorf auf der Welt hat es eine.


Eine gezielte Dosis Marktwirtschaft

Da wir nun mühsam die Lebensmittelselbstversorgung der LMOs eingerichtet haben, tönt all das ein bisschen befremdlich. Wozu dieses marktwirtschaftliche Element? Droht nicht der Rückfall in den Kapitalismus? Keineswegs. Erstens würden die mimos kaum zehn Prozent des heutigen Handelsvolumens ausmachen und nur für Güter, die ohnehin industriell und weltweit (Kaffee, Kakao, Öle) hergestellt werden müssen. (Es hat ja keinen Sinn, dass LMO Eldorado in Zürich einen Laib Tilsiter gegen einen Sack Kakao von LMO Sumusumu auf Samoa tauscht.) Zweitens ist die mögliche individuelle Versorgung ein wichtiges Korrektiv («checks and balances!») gegen die Macht der LMOs: Das Recht auf Austritt nützt nichts, wenn man draussen verhungert. Drittens sollen die ArbeiterInnen der Hightech-Werke für ihre industrielle Disziplin und ihr Leben in Industriestädten eine kleine Belohnung in Form von Unabhängigkeit bekommen. Schliesslich zahlt die uba jeder und jedem ErdbewohnerIn ein universales Taschengeld von 200 umu (= 200 Dollar) pro Jahr aus (kein garantiertes Minimaleinkommen, das wäre unmöglich), das sie garantiert irgendwo ausgeben können muss. Die mimos führen auch lokale Produkte, was KleinproduzentInnen oder LMOs wieder umus einbringen kann. Es gibt selbstverständlich neben den mimos auch vielfältige unabhängige Märkte für nicht notwendige, ja schädliche Artikel.

Das neue Weltmodell kann nur stabil sein, wenn es ein gut ausbalancierter systemischer Mix ist. Selbstversorgung ist gut, aber nur für einfache Güter und Kollektivkonsum. Tauschabkommen sind gut, aber nur für grössere Mengen, haltbare Güter und gleiche Qualitäten. Kapitalismus ist gut für Hightech, Markt für individuelle Bedürfnisse, ein umu-Taschengeld (ein bisschen Kommunismus) für die allgemeine Beweglichkeit.

Alles zusammen bedeutet weniger Sorgen, aber weiter andauernde Konflikte um Freiheit und Sicherheit, Verbindlichkeit und Gemütlichkeit, Neugier und Risiko. Keine Utopie also, dafür etwas mehr Ordnung im Durcheinander.




V. Die Politik




Sie findet heute jeden Morgen in Houston, Texas, statt, wenn der Familienvater in seinen Chevrolet steigt und sein Haus in der grünen Suburb verlässt, um in den Wolkenkratzern von Downtown seine Assets im Erdölgeschäft zu verwalten. (Später fährt seine Frau im Toyota in die Shoppingmall, der Sohn im VW in die University, und die honduranische Hausangestellte trifft im klapprigen Mitsubishi ein, und schon haben wir die Grundelemente beisammen.)


Die Weltherrschaft der Vorstädte

Die Interessengruppe, für die der globale Kapitalismus heute veranstaltet wird, sind einige hundert Millionen solcher automobiler Suburbaniten. Sie brauchen den Schutz eines starken Staates und dieser wiederum eine loyale soziale Gruppe, die ihn stützt. Dies sind die Leute, die Bush gewählt haben, und das nicht aus Versehen. Er ist der Grosse Weisse Vater all der Häuschen im Grünen, wo die Realutopie der heutigen Zeit gelebt wird.

Leider ist sie ziemlich aufwendig. Während Houston, Texas, bei einer Bevölkerungsdichte von 10 Personen pro Hektare 290 Liter Benzin verbraucht, sind es in Hongkong bei 293 Personen 11,4 Liter, also dreissigmal weniger.

Alles andere folgt daraus: sichere Erdölversorgung, Kontrolle über Länder mit Ölquellen, dazu passende Politik, eigene Türen überwachen, fremde aufmachen, Sicherheit zuhause, Unsicherheit überall sonst. (Nicht zufällig haben die USA neben den schönsten Suburbs mit zwei Millionen InsassInnen auch das grösste Gefängnissystem des Planeten. Es muss eine zwangsläufige Entsprechung zwischen dem für viele unmöglichen Traum und diesem nur allzu möglichen Albtraum geben.)

Die neue Weltunordnung ist kein Imperium, bedeutet nicht globale Expansion der USA, sonst wären wir längst ihr 53. Staat. Die US-Militärmacht besetzt keine Territorien (hütet sich sogar davor), die USA wollen keinen Weltstaat (das Korsett von Uno, Nato oder WTO ist ihnen jetzt schon zu eng), sie wollen keine «Lösungen» zum Beispiel im Nahen Osten, weil die Unsicherheit ihnen immer Optionen für Interventionen offen lässt. Das ist in der Tat, was sie wollen: Optionen. In Afghanistan ging es nicht um die Besetzung von Boden, sondern um das Öffnen von Durchgängen. Die AmerikanerInnen sind sozusagen das Staatsvolk des Weltkapitals, die Prätorianergarde, die globalen Lageraufseher, Sortierer in Gut und Böse, die Globocops. Ohne einen Extradeal würden sie desertieren.

Unsere einzige Hoffnung ist daher das Zerbrechen der Suburbia-Utopie, dieses Extradeals, und diesbezüglich gibt es schon einige ermutigende Anzeichen. Zum Ersten ist auch für die meisten US-BürgerInnen Suburbia nur eine Utopie, von immer wenigeren erreicht und von vielen schon wieder aufgegeben. Um sich von ihr zu erholen, brauchen sie zum Beispiel Pauschalferien in Resortkomplexen, die nichts anderes sind als kommerziell organisierte LMOs. Der Rückzug in Gated Communities (möglichst mit eigener Militia) ist zugleich der letzte Höhepunkt und der Tod des Idylls.


Die wahren Terroristen

Suburbia ist klinisch schon lange tot, jetzt geht es darum, diesen gefährlichsten, räuberischsten Mythos unseres Planeten endgültig loszuwerden und ein schöneres Leben in labyrinthischen Ökopalästen zu propagieren. Suburbia ist letztlich todlangweilig – es erzeugt jugendliche Amokläufer, Psychosen, Scheidungen, Süchte und Golfplätze. Doch mangels eines besseren lebt der amerikanische Traum weiter, auch ausserhalb der USA. Er lebt überall, in palästinensischen Flüchtlingslagern, in chinesischen Quartieren und afrikanischen Dörfern – oder auch in der Schweiz, wo weiter Shoppingcenter und Strassen gebaut und die letzten grünen Hänge mit kleinen Minergiehäuschen verbaut werden. Das Mittelland ist ein kleines Houston, Texas, (eine «Stadt» – was für ein Witz!).

Es sind nicht unbedingt die grossen Themen, die die grosse Politik bestimmen. Wir sollten die Rolle der US-Militärmaschine nicht überschätzen. Das Imperium ist aus Papier (obwohl es zuweilen bombt und schiesst). Das römische Imperium wurde liquidiert, als alle die Spiele gesehen hatten und das Brot nicht mehr schmeckte.

Darum sind heute die effektiven Terroristen all jene nichtsnutzigen KonsumentInnen, die kein Auto kaufen (ob es amerikanisch oder japanisch ist, spielt schon lange keine Rolle mehr). Zu Terroristen werden schliesslich auch jene Suburbaniten, die ihre Lebenslüge, ihr imperiales Trauma, in Bilanzfälschungen umgesetzt haben. Sie haben mehr Schaden angerichtet als die durchgeknallten saudischen Milliardärssöhnchen, die nur etwas überflüssigen Büroraum zerstört haben, denn sie selbst sind die Verkörperung eines grundlegenden «Schadens». Terroristen kommen immer von «innen», weil draussen gar niemand mehr ist. Prince Prospero kann die Angst und den roten Tod nicht draussen halten.


Die Schweiz: In den Volksfront-Fängen

Die Schweiz, ein kleines, in jeder Beziehung von den Finanzmärkten abhängiges Territorium, ist nur ein unbedeutender Teil der kapitalistischen Weltunordnung. Seit fast sechzig Jahren wird sie zuhanden dieser Unordnung von einer amnesischen Volksfront, die sich Koalition der Vernunft von SP und FDP nennt, treuhänderisch verwaltet. Dafür bekommt sie immer gute Noten von US-Justizministern und Moody’s. Dieses globale Verhältnis dürfen wir nicht aus den Augen lassen, wenn wir von Veränderungen in der Schweiz reden.

Eine politische Bedingung für einen Wandel ist die Unterminierung dieser erwähnten Volksfront des Verdrängens und Vergessens. Sie besteht ja darum, weil sie die Angst vor Veränderungen verkörpert und die Hoffnung, dass alles weitergehen möge wie bisher. Während die einen den Finanzplatz verteidigen, verteidigen die andern den Service public. Das Karussell von etwas mehr Markt und etwas mehr Staat dreht sich nun seit 200 Jahren – ohne Ausweg. Was tun?

Alle Parteien haben sich inzwischen der amnesischen Volksfront angeschlossen. Deswegen ist die Lage nicht aussichtslos. Es gibt im helvetischen Territorium eine Kuriosität, an die wir anknüpfen können: den Zivilschutz.

Wie kein zweites Land haben wir unser Territorium mit Anlagen für den «schlimmsten Fall» durchlöchert und unterbunkert und dafür Milliarden ausgegeben. Die Amnesie ist nur oberflächlich, im tiefsten Innern traut die Schweizer Mehrheit der Koalition der Vernunft nicht. Die gigantischen Zivilschutzanlagen verraten das Grundgefühl der SchweizerInnen: «Wir lassen die nur so lange machen, bis wir selbst zum Rechten schauen müssen.»


Die subversive Kraft des Zivilschutzes

Warum also sollten die SchweizerInnen nicht wieder Milliarden für den andern schlimmsten Fall ausgeben wollen, für ein ökonomisches Grounding nämlich? Warum nicht heute beginnen, für die transkapitalistische Zukunft zu planen, Auffangstrukturen vorzubereiten, mit heutigen Mitteln in soziales, ökologisches Kapital zu investieren? Wenn eines Tages der kapitalistische Winter vorbei ist und der Asset-Schnee schmilzt, dann kommt nicht nackter Fels, sondern eine grüne Frühlingswiese zum Vorschein.

Es ist natürlich klar, dass unsere Regierung Krisen- und Katastrophenpläne in den Schubladen hat. Doch wenn diese in Kraft treten, dann ist es wieder zu spät: Dann haben wir ein autoritär-zentralistisches System, das nur dazu dient, den alten Zustand herzustellen. Wenn wir aber – wie der Zivilschutz – immer mehr «so tun, als ob», dann wird daraus eine Bewegung, die unsere katastrophale Wirtschaftsweise ablösen kann. Ein selbst verwalteter «Zivilschutz» kann die nachhaltige Wende bringen. (Sogar einige seiner materiellen Strukturen können dabei gut gebraucht werden.) Das zunehmende Vertrauen in eine Alternative könnte den herrschenden Wahnsinn verdrängen.


Wer fängt an?

Auf grosse parteipolitische Veränderungen zu spekulieren, ist also überflüssig. Was wir brauchen, ist die gleiche Oberfläche, aber ein paralleles Tiefenprogramm. Dabei geht es nicht um spektakuläre Aktionen, sondern um ganz kleine Schritte, die von allen mitvollzogen werden können. Es hat keinen Sinn, wenn irgendwelche PionierInnen heroische Projekte aufziehen und damit andere entmutigen. Wir wollen niemanden zurücklassen, weil wir alle brauchen. Im Falle der Schweiz braucht es für das oben beschriebene Modell keine neue Verfassung, nur wenige wünschbare Gesetzesänderungen und ganz sicher keine Revolution (grosse Energiesprünge können wir uns nicht mehr leisten).

Da wären zuerst die LMOs. «Einfach machen», sagt dazu mein Freund K. Er hat natürlich Recht. Sie können zum Beispiel als Aktiengesellschaften gestartet werden (mit Aktionärsbindungsverträgen: Dividenden werden reinvestiert, keine auswärtigen AktionärInnen, nicht mehr als zwei Prozent der Aktien pro Mitglied usw.), wie das die Gemeinschaft Hard in Winterthur praktiziert. Ähnlich wie zwischen Pensionskassen kann das LMO-Mitglied also seine Assets transferieren. Auch die (weniger demokratische) Genossenschaft oder ein Verein sind Optionen.

LMO-taugliche Strukturen gibt es schon lange, zum Beispiel in Wohngenossenschaften, in einigen städtischen Siedlungen, aber auch in privaten Überbauungen, wo man gemerkt hat, dass mehr gemeinsame Infrastrukturen, eine gut dosierte soziale Stimulation, eben «Urbanität», mehr wert ist als Isolation im Grünen.

Nichts hindert uns daran, unsere LMOs, Proto-LMOs, Pseudo-LMOs (die Terminologie ist ja bloss mein Problem) zu starten. Und doch: Es geschieht einfach nicht. Appelle genügen nicht. Das soziale «Kapital» (ein ähnlich lustiger Ausdruck wie etwa die «Finanzprodukte» der Banken) ist oft nicht vorhanden, um mehr als schöneres Wohnen zustande zu bringen. Neben voller Erwerbstätigkeit (als gebundenes variables Kapital!) ist kaum Energie vorhanden, um diese wichtigen Initiativen zu ergreifen.

Was also muss geschehen?




VI. Das Impulsprogramm




Das nötige soziale Kapital (die Fähigkeit der BewohnerInnen, sich selbst zu organisieren) muss über den Umweg der Politik aufgebaut werden. Zuletzt zählt die Eigenaktivität der BewohnerInnen. Doch bevor der Staat überflüssig wird (abgesehen von Polizei und Justiz), kann er noch die Impulse geben.

Ich habe meine Vorschläge als eine Reihe von Impulsprogrammen zusammengefasst, die im imaginären autonomen Territorium CH, aber auch nur in einzelnen Städten oder Kantonen verwirklicht werden können. Ich bin mir bewusst, dass vieles davon in der einen oder andern Form heute schon besteht oder gemacht wird. Die einzelnen Programme sind untereinander vielfach verknüpft und bilden das Gesamtprogramm «20-Prozent-Gesellschaft». Sie gehen von den gegenwärtigen Möglichkeiten aus und wirken dementsprechend «bescheiden». (Wer grossartige Visionen hat, soll sofort zum Arzt gehen.)


BORGO: LMOs fördern

Wenn wir uns Probleme wie zum Beispiel die demografische Überalterung, das Zusammenleben mit ImmigrantInnen, die kulturelle Verödung von Schlafquartieren, die Vernachlässigung der Aussenräume, die Alltagsökologie (Verschwendung, Abfall, Waschen/Kochen) vergegenwärtigen, dann wird klar, dass LMOs Handlungsmöglichkeiten bieten. BORGO soll in Nachbarschaften möglichst viele LMO-Strukturen schaffen. Es sieht so aus:

• Pro 500 BewohnerInnen wird einE LMOrganisatorIn staatlich bezahlt. Dies kann im Rahmen von Beschäftigungsprogrammen oder des zivilen Ersatzdienstes erfolgen, wobei die BewohnerInnen eine Mitsprache haben müssen. Die LMOrganisatorInnen leisten Hilfe zur Selbsthilfe.

• Grössere Städte richten eine LMO-Stelle ein, die Nachbarschaften einlädt, sich zu LMOs zu organisieren. Die Stelle unterstützt werdende LMOs mit Information, Organisationshilfe und Beiträgen für Umbauten.

• Es werden LMO-Fonds (zum Beispiel hundert Millionen für Zürich) geschaffen, mit denen gezielt Immobilien gekauft werden, die in LMOs passen und in denen auch LMO-Infrastrukturen eingerichtet werden können.

• Die Stadt übernimmt fünfzig Prozent der Kosten (Miete) für einen zentral im LMO gelegenen Parterreraum (zirka hundert Quadratmeter), der als Treffpunkt, Bar, Depot für Lebensmittellieferungen, Koordinationsstelle freiwilliger Arbeitsgruppen, Infodrehscheibe dient. Diese LMO-Bar wird zuerst von der/dem LMOrganisatorIn betreut; sie würde auch als E-Commerce-Depot dienen. (E-Commerce-Betreiber suchen schon lange nach einer Überbrückung der letzten hundert Meter: Das wäre die Lösung. Für Zürich ergäben sich so 700 E-Depots beziehungsweise LMO-Bars.)

• Wenn sich LMO-BewohnerInnen entschliessen, eine Kantine, das heisst eine grosse Küche und einen Esssaal/Gemeinschaftsraum, einzurichten, hilft die Stadt mit Beiträgen und Krediten aus. Es könnte zu diesem Zweck auch ein Vertrag mit bestehenden Restaurants abgeschlossen werden.

• Im Rahmen einer Verwaltungsreform (siehe auch POSTO) werden bisherige staatliche Aufgaben an funktionierende LMOs abgetreten; mit entstehenden LMOs beziehungsweise Genossenschaften schliessen Gemeinden oder Kantone Globalverträge ab, die inhaltlich von Ökologie über Aussenraumpflege bis Suchtprävention reichen; sie sorgen für einen Finanzausgleich zwischen armen und reichen LMOs.


POSTO: Alle Macht den Quartieren

Gut ausgestattete und lebendige Quartiere (beziehungsweise Kleinstädte, Dörfer) sind das beste Mittel gegen die Zwangsmobilität. Einfamilienhäuser sind schnarch, Geschäftsviertel gähn. Die Trennung in Schlafquartiere und Geschäftsquartiere muss dringend aufgehoben werden. Strassenseitige Parterreräume müssen also praktisch durchgehend mit öffentlichen oder wenigstens LMO-internen Nutzungen belegt sein. Das Herumschlendern muss Spass machen.

Das Programm, das Quartiere selbständiger und attraktiver machen soll, heisst POSTO («il solito posto»¹, der öffentliche Ort, wo man sich trifft). Während Stadtzentren hektisch sein können, vielleicht sogar müssen, gibt es keinen Grund, dass der Arbeitsstress sich im Quartier fortsetzt. POSTO ist kein Verkehrsbehinderungsprogramm, sondern ein Programm, das Verkehr überflüssig macht, indem ein grösserer Teil des Lebens in Fussgängerdistanz geführt werden kann. Es gibt nichts Öderes als autofreie Strassen!

Anmerkung von ob: Bekanntes in anderen Sprachen zu bezeichnen, verbindet die Menschen über die Sprach-, Kultur-, Staats-, Nationengrenzen hinaus, weil es die selben Bedürfnisse und damit Gemeinsamkeiten vor Augen führt ]

• Die Quartiere werden von der Stadt so eingeteilt, dass sie etwa 10 000 BewohnerInnen umfassen, geografisch kompakt und verkehrsmässig gut erschlossen sind. (Oft entsprechen sie heutigen Migros-MMM-Einzugsgebieten!) Danach werden die BewohnerInnen konsultiert und Korrekturen angebracht.

• Jedes Quartier hat ein Quartierzentrum (eben: il POSTO; grosses Neon-Q über dem Eingang) mit Piazza, einem Café/Restaurant, Info-Drehscheibe, Post, Dienstleistungen usw. (Die Migros, die uns ja schon gehört, könnte hier ihre Logistikerfahrung beisteuern und einen mimo einrichten.) Es besteht kein Konsumzwang. Die heutigen Gemeinschaftszentren befinden sich leider oft abseits, sind allzu freizeitorientiert und oft pseudoländlich (Streichelzoo). Beizen allein schaffen nicht genug Öffentlichkeit, teilen in Szenen ein und sind für Fremde zu wenig zugänglich. Vom Quartierzentrum aus initiieren Arbeitsgruppen alle andern Veränderungen im Quartier.

• In grösseren Städten werden Quartierräte geschaffen. Zur Hälfte sind darin Delegierte der möglichen oder bestehenden LMOs (man kann das Quartier provisorisch so einteilen), zur Hälfte frei gewählte Leute (bei zwanzig LMOs macht das vierzig Mitglieder); der Quartierrat hat ein eigenes Budget und übernimmt von der Stadt so viele Aufgaben, wie es beiden Partnern sinnvoll erscheint (das hängt ganz von der Entwicklung von LMOs und der andern Programme ab).

Das Quartier unterhält ein quartierinternes Wohnungstauschzentrum, sodass BewohnerInnen über alle Lebensphasen im Quartier wohnen können (wenn sie wollen). Das ist sehr wichtig, wenn Kinder ausziehen oder man plötzlich mit kleinerem Einkommen auskommen muss (Pensionierung).

• Das Quartier richtet ein Dienstleistungs- und Werkstattzentrum für Eigenarbeit ein. Nach Bedarf kann es Bäckereien, Wäschereien, Fahrzeugpools usw. betreiben oder betreiben lassen. Es springt überall dort ein, wo kommerzielle und private Unternehmen sich zurückgezogen haben. (Das Laden- und Gewerbesterben wird sich – zum Glück! – nicht aufhalten lassen.)

Die Grundidee von Posto ist, bisherige Aufgaben der Stadtbehörden nach «unten» zu verschieben. In allen Fällen müssen deshalb Budgets und Verträge ausgehandelt werden. Das Quartier kümmert sich prioritär um drei Bevölkerungsgruppen: Junge, Alte und MigrantInnen. Zusammen mit den Stadtbehörden werden drei Programme entwickelt:

• VILLA: Das Quartier richtet ein Jugendhaus für Teenager ein, das im Keller und im Parterre Musik- und Partyräume, in den oberen Stockwerken Wohnungen enthält; Jugendliche sollen sich zeitweilig von ihren Eltern lösen können, aber trotzdem im Quartier bleiben können.

• SERA: ein Programm, das es älteren Menschen erlaubt, in verschiedenen Phasen (selbständig, mit Haushalthilfe, in Pflegepension) integriert und aktiv im gleichen Quartier zu wohnen. Dazu gehört eine Stelle für Freiwilligenarbeit speziell für ältere Menschen. Niemand soll in ein Altersheim müssen.

• CASABLANCA: Für MigrantInnen bestehen zwei Angebote mit den entsprechenden Unterstützungsprogrammen: a) Integration in LMOs; b) Aufbau von LMOs mit eigenem kulturellem Charakter (das sind keine Ghettos, sondern eher Botschaften zu anderen autonomem Territorien des Planeten). Die MigrantInnen sollen über die Art ihrer Integration selbst mitbestimmen können. Solche Nachbarschaften tragen zur Lebhaftigkeit der Stadt bei und machen die diffuse Integration leichter (siehe New York).


URBANOVA: weg mit Einfamilienhäusern

Das ökologische und soziale Hauptproblem des Territoriums CH ist die wuchernde Zersiedelung und daher das grosse Verkehrsaufkommen und der soziale Zerfall (Kriminalität). Das Programm URBANOVA sorgt mit drei Initiativen dafür, dass die Landschaft entrümpelt und die Städte ökologisch umgebaut und verdichtet werden. (Hongkongs Dichte ist achtmal höher ist als die von Zürich – da liegen zwanzig Prozent mehr wohl noch drin). Die Lösung der Verkehrsprobleme liegt nicht in der Entwicklung neuer Verkehrsmittel oder der Förderung des öffentlichen Verkehrs, sondern im Überflüssigmachen von lustlosem Verkehr. URBANOVA ist ein typisches staatlich-regulatorisches Programm:

• Der Benzinpreis wird zuerst auf zwei, dann bis auf zwanzig Franken erhöht. Mit diesem Geld finanziert der Bund den Kauf und Abbruch von Einfamilienhäusern auf dem Land, den Umzug in städtische LMOs oder den Einkauf in Genossenschaften. (Das Auto wird einerseits teurer, andererseits braucht man es auch nicht mehr. Mit dem Töff über den Gotthard zu blochen, bleibt erschwinglich, wird aber etwas Besonderes.)

• Der Bund erhebt eine Steuer auf Wohnfläche, die vierzig Quadratmeter pro Person übersteigt. Mit diesem Geld wird ein Fonds gespeist, der Verdichtungsumbauten (Aufstocken, Lücken füllen, dichtere Neubauten) und gemeinschaftliche Infrastrukturen in den Quartieren oder Dorfkernen ermöglicht.

• Der Bund eröffnet einen Siebzig-Milliarden-Fonds (das ist nur doppelt so viel wie die Neat und könnte als Konjunkturförderungsprogramm getarnt werden). Damit sollen die 14 000 möglichen LMOs in der Schweiz bei Umbauten, ökologischen Massnahmen und Startfinanzierungen unterstützt werden (macht fünf Millionen pro LMO). LMOs können so auch Gebäude von Privaten erwerben, die nicht mitmachen wollen. Damit wird praktisch der ökosoziale Umbau der Schweiz, der wahre Zivilschutz also, angegangen.


BOSSANOVA: Das Antiarbeitsprogramm

Ein grosser Teil der ökologischen und sozialen Schäden kann auf den Faktor «zu viel Arbeit» zurückgeführt werden. Es geht darum, Arbeitszeitverkürzungen zu fördern, die flexibel sind, individuell etwas bringen und erst noch Energien für soziales Engagement freisetzen. Es findet ein Ausgleich zwischen «männlichen» und «weiblichen» Biografien statt. Hier greift der Bund mit BOSSANOVA impulsgebend ein:

• Es wird neu eine einprozentige Sabbatical-Lohnsteuer (je ein halbes Prozent von Arbeitnehmer und Arbeitgeberin) erhoben. Mit einem Fonds, der aus dieser Steuer, der Arbeitslosenversicherung und dem Bildungsbudget geäufnet wird, unterstützt der Bund alle Erwerbstätigen und HaushaltarbeiterInnen mit 30 000 Franken, wenn sie alle sieben Jahre einen einjährigen unbezahlten Urlaub nehmen; zudem bezahlt er die AHV- und Pensionskassenbeiträge. Damit wird es möglich, ohne Flugzeuge Fernreisen zu unternehmen. Im Unterschied zur Reduktion der Wochenarbeitszeit bieten Sabbaticals einen wirklichen Unterbruch im Arbeitsleben, eine echte Erholung, eine Möglichkeit der Umorientierung. Sie bedeuten eine «vorbezogene» Pensionierung auf Raten.

• Der Bund entschädigt Freiwilligen- und Teilzeitarbeit, indem er ausfallende AHV- und Pensionskassenbeiträge übernimmt. (Das kostet ziemlich viel Geld.)


AGRONOVA: Rettet Bauern vor dem Dorf

Globalökonomisch gesehen ist die schweizerische Landwirtschaft längst tot. Rentabel wäre sie bei einem Preis von 200 Franken pro Kilo Kalbfleisch. Im Grunde genommen ist unsere Landwirtschaft ein nationales Selbstversorgungs- und Landschaftsschutzprogramm. Also machen wir sie auch dazu!

Das LMO-Programm BORGO lässt sich auf ländliche Gegenden und kleine bäuerliche Dörfer offensichtlich nicht anwenden. Sie sind ja keine gemischten Gemeinschaften, sondern eigentlich agrikulturelle Stützpunkte, eher Fabriken vergleichbar. Parabolantennen und Ausflüge in Shoppingcenter illustrieren deutlich, dass die Pflege des echten Dorflebens nur noch Nostalgie ist. Die Bauern sind seit je auf die Städte ausgerichtet, wo ihre Konsumentinnen leben. Die Rückkehr in die rein ländliche Subsistenz wünschen weder Bäuerinnen noch Städter: Beide wollen Zugang zum ganzen Leben des dritten Jahrtausends.

Nicht die Bauerndörfer werden also LMOs, sondern es werden einige Bauernhöfe zusammen mit ihren städtischen Partnern eine LMO. Das kann so weit gehen, dass die Bäuerinnen und Bauern in der Stadt wohnen und nur noch in Schichten (zum Beispiel wochenweise) auf dem Land leben. Das Landdorf bildet eine Arbeitsgemeinschaft. Wenn in einigen Orten auch ländliche LMOs möglich sein sollten, umso besser. Gute Landbeizen gibt es weiterhin als völlig private Unternehmungen oder angelehnt an die grossen LMO-Höfe.

Was macht nun der Bund mit seinen Subventionen?

• Der Bund richtet eine Stelle AGRONOVA ein, bei der Bauern und LMO-Bewohnerinnen ihr Interesse für Direktbelieferungen bekannt geben können. Er bringt die Partner gemäss ökologischen (Distanzen) und produktabhängigen Kriterien zusammen (als Vorschlag). Land- und Stadtpartner handeln Produktepalette und Preise selber aus.

• Kommt eine Partnerschaft zusammen, subventioniert AGRONOVA das Einrichten eines Konsumentendepots (Raum, Kühlanlage usw.; zusammen mit BORGO).

• AGRONOVA übernimmt einen Lohnanteil, Versicherungen und Sozialbeiträge von LMO-Angehörigen, die in Freiwilligenarbeit bei den Agropartnern mithelfen.

• Landwirtschaftliche Betriebe, die im AGRONOVA-Programm mitmachen, erhalten Investitionsbeiträge für den Bau von Unterkünften für Stadtpartner (Landarbeit, Landurlaub, Kinder auf dem Land), die Anschaffung von Kleinlastwagen, Lagereinrichtungen, für zusätzliches Werkzeug. Sie erhalten Subventionen für Wohnungskosten in der Stadt (solange sie nicht definitiv umziehen).

• Die Produktionssubventionen schliessen einen AGRONOVA-Faktor ein, der zum ökologischen kommt. Landbetriebe und LMOs, die mit Direktbelieferungsverträgen verbunden sind, teilen sich diesen Subventionsteil (günstiger liefern, billiger essen).

Das Ziel ist das Zusammenwachsen von Stadt und Land. Die Landwirtschaft verabschiedet sich aus der Wirtschaft und wird Teil der erweiterten Hauswirtschaft. Statt einer mörderischen Marktwirtschaft soll hier eine Stadt-Land-Partnerschaft entstehen, die eine dezentral organisierte, ökologisch effiziente und sozial bereichernde Subsistenz auf einem bestimmten Territorium garantiert. (Vielleicht würde dann das helvetische Territorium doch noch autonom.)


TERRADONNA: Die Schweiz als Frauenhaus

Bis jetzt wurden alles nationale Programme beschrieben. Doch das autonome Territorium CH ist nicht allein auf der Welt. Selbstverständlich unterstützt es alle Bestrebungen weltweit, die in dieselbe Richtung laufen. Die Programme der 20-Prozent-Gesellschaft lassen sich auf die USA oder die EU ausdehnen. Vielleicht lassen diese sich inspirieren.

Wichtiger ist aber die Unterstützung im Süden. Da unsere Kräfte beschränkt sind, würden wir uns am besten auf ein Land, zum Beispiel Guatemala, Burkina Faso, Albanien oder Nepal, beschränken. Wichtig wäre es auch, die «Botschaften» in der Schweiz (kulturelle LMOs) so einzusetzen, dass eine Gegenmacht gegen die traditionell-patriarchalischen Machtcliquen entstehen kann. Wir sollten auch versuchen, weniger auf Zufallsgäste zu warten und mehr Gäste einzuladen.

Diesem Zweck dient das einzelne Programm, von dem ich glaube, dass es die beste Wirkung hätte, TERRADONNA. Der Bund lädt pro Jahr 5000 Frauen aus «armen Ländern» in die Schweiz ein. Er kommt auf für ihre Lebenskosten und für eine Ausbildung nach Wunsch. Bevorzugt werden Frauen, die verfolgt werden, vergewaltigt wurden oder sonst bedroht sind. Das Territorium CH wird sozusagen ein Frauenhaus des Planeten. Umgekehrt besteht für die Frauen die Verpflichtung, ohne Kinder zu kommen und keine Männer nachzuholen. (Selbstverständlich muss man auch Frauen mit Männern und Kindern helfen, doch das geschieht am besten dort, wo sie leben.) Hier ginge es um Frauen, die wirklich wegwollen, die unabhängig werden wollen von traditionellen Bindungen. Nach fünf Jahren können sie entscheiden, ob sie bleiben oder zurückkehren wollen. Die LMOs, in denen sie wohnten, bleiben ihre PatInnen.

TERRADONNA scheint harmlos, doch es würde eine Rückwirkung auf die Situation in vielen Ländern haben. Frauen könnten sagen: «Entweder ihr respektiert mich, oder ich gehe in die Schweiz.» Den Frauen mehr Macht zu geben, heisst, die Ausbeutbarkeit des Südens zu bekämpfen. Im gleichen Mass, wie wir ihn weniger ausbeuten müssen und er sich besser wehren kann, nähern wir uns der planetarischen 20-Prozent-Gesellschaft. Und dann muss es keine Wirtschaftsflüchtlinge mehr geben.




VII. Wenn die Politik weiterschläft




Ob wir den Wettlauf des nötigen ökosozialen Umbaus gegen die knapper werdenden Ressourcen gewinnen können, ist unsicher – es bleibt uns nichts anderes übrig, als es zu versuchen. Es kann gut sein, dass das globale Kapital uns das Spielzeug (den Staat) wegnimmt, bevor wir ihn noch für unsere Impuls- und Sozialprogramme benützen können. Dann bleibt uns nur der direkte Weg.

Falls sich unsere Parteien nicht aufraffen, diesen Umbau anzupacken, bleibt uns noch der modische Rechtsweg. Artikel 2 der Bundesverfassung verpflichtet die Schweizer Behörden zu «nachhaltiger Entwicklung» (nicht etwa «Wachstum»). Nun ist unsere Entwicklung offensichtlich nicht nachhaltig.

Wie wäre es, die Schweizerische Eidgenossenschaft in Strassburg wegen Verfassungsbruchs einzuklagen? Wer macht dabei mit?
 




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