Über Individualisierung
(Auszug aus Text Riskante
Freiheiten)
Individualisierung
in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie
Unserem Lehrer Karl Martin H. in Dankbarkeit
gewidmet
I. Was meint »Individualisierung der Lebensformen«?
»Hier ging erst vorgestern, vor vier Jahren
erst, ein vierzigjähriger Großversuch für die Menschheit zu Ende«, sagte
Friedrich Schor- lemmer Ende 1993 in der Lutherstadt Wittenberg. »Da haben auch
17 Millionen Deutsche in der ummauerten Provinz in Kollektivie- rungszwängen
gelebt, die eine Einheitspartei als höchste Form der Freiheit ansah,
Individualisierung als Subjektivismus verdammte, Zukunftsrisiken mit
,wissenschaftlich, begründetem ZukunftSOp- timismus abwies, wo die )Sieger der
Geschichte( die Normen vorgaben und die Einheitsgesellschaft anstrebten (die
sozialisti- sche Menschengemeinschaft), in der die Menschen als stets tätige
Gemeinschaftswesen verstanden wurden, mit dem sicheren, ge- setzmäßig verbürgten
Ziel des Kommunismus gefüttert. Man durfte nicht mehr entscheiden, weil nichts
mehr zu entscheiden war, weil die Geschichte alles )oben' entschieden hatte.
Aber man mußte auch nicht entscheiden. ..Nun in der Freiheit, selbst ent-
scheiden dürfen und selbst entscheiden müssen, Zerfall aller vor- handenen
Institutionen, Verlust aller Sicherheiten. ..Das Glück der Freiheit ist
gleichzeitig das Fallen in ein Loch. Nun sehe jeder Zu! Was gilt? Wer gilt? Es
gilt, wer hat und wer zu mehren weiß, was er hat. 17 Millionen sind
dazugekommen, aber die Westkara- wane zieht weiter und ruft uns zu: ,Kommt mit.
Wir wissen den Weg. Wir wissen das Ziel. Wir wissen keinen Weg. Wir wissen kein
Ziel. Was sicher ist? Daß alles unsicher und risikoreich ist. Genießt die
Bindungslosigkeit als Freiheit.(('
Anders-
und in vielem doch ähnlich -verläuft die Entwicklung in China. Auch in China
zerbricht das kollektive System, das ein garantiertes Einkommen gab, die »eiserne
Reisschüssel«. Früher hatten die Menschen kaum Wahlmöglichkeiten in Privat-
und Be- . ;;"1;'
10 ~
rufsleben,
aber das minimale Sicherheitsnetz des Kommunismus bot ihnen staatlich
subventionierte Wohnung, Ausbildung und Gesundheitsversorgun~. Genau diese
Versorgung von der Wiege bis zur Bahre, angebunden an das Arbeitskollektiv in
Fabrik oder Landwirtschaft, löst sich jetzt auf, und statt dessen kommen Ver-
träge, die Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit mit Fähigkeit und Leistung
verknüpfen. Heute wird von den Menschen erwar- tet, daß sie ihr Leben selbst
in die Hand nehmen und für Dienst- leistungen einen marktgerechten Preis
zahlen. -Der ständige Refrain unter städtischen Chinesen lautet, daß sie mit
dem be- schleunigten Tempo des Lebens nicht mehr Schritt halten können. Sie
sind verwirrt vom Wandel der Werte und Blickwinkel, was Grundfragen in Arbeit,
Ehe, Familie angeht.«2
Man nehme, was man will: Gott, Natur,
Wahrheit, Wissen- schaft, Technologie, Moral, Liebe, Ehe -die Moderne verwandelt
alles in -riskante Freiheiten«. Alle Metaphysik, alle Transzendenz, alle
Notwendigkeit und Sicherheit wird durch Artistik ersetzt. Wir werden -im
Allgemeinsten und Privatesten -zu Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. Und
viele stürzen ab. Dies nicht nur im Westen, sondern gerade auch in den Ländern,
die sich abrupt für westliche Lebensformen öffnen. Die Menschen in der
ehemaligen DDR, in Polen, in Rußland, in China befinden sich in einem dra-
matischen -Absturz in die Moderne« (H. WiesenthaI).
Solche
Beispiele, für die Bürger der alten Bundesrepublik scheinbar fern, verweisen
doch auf eine Dynamik, die auch hier wohl vertraut ist. In Schorlemmers Rede fällt
das Stichwort: -In- dividualisierung«. Mit diesem Begriff ist ein Ensemble
gesell- schaftlicher Entwicklungen und Erfahrungen gemeint, das vor allem durch
zwei Bedeutungen gekennzeichnet ist, wobei diese sich, in der Diskussion wie in
der Realität, immer wieder über- schneiden und überlagern (was, wenig
verwunderlich, ganze Se- rien von Mißverständnissen und Kontroversen erzeugt
hat): Indi- vidualisierung meint zum einen die Auflösung vorgegebener
sozialer Lebensformen -zum Beispiel das Brüchigwerden von le- bensweltlichen
K3tegorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrol- len, Familie, Nachb3rschaft
usw.; oder auch, wie im F311 der DDR und 3nderer Ostblockstaaten, der
Zusammenbruch staatlich ver- ordneter Norm3Ib,ogr3phien, Orientierungsrahmen und
Leitbil- der. \Vo immer solche Auflösungstendenzen sich zeigen, stellt sich
zugleich die Fr3ge: Welche neuen Lebensformen entstehen dort,
II
wo die
alten, qua Religion, Tradition oder vom Staat zugewiese- nen, zerbrechen ?
Die Antwort, auf die zweite Seite von
Individualisierung ver- weisend, heißt schlicht: In der modernen Gesellschaft
kommen auf den einzelnen neue institutionelle Anforderungen. Kontrollen und Zwänge
zu. Über Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Büro- kratie wird er in Netze von
Regelungen, Maßgaben, Anspruchs- voraussetzungen eingebunden. Vom Rentenrecht
bis zum Versi- cherungsschutz, vom Erziehungsgeld bis zu den Steuertarifen: all
dies sind institutionelle Vorgaben mit dem besonderen Aufforde- rungscharakter,
ein eigenes Leben zu führen. Individualisierung in diesem Sinne meint also ganz
sicherlich nicht eine "unbegrenzt irn quasi freien Raum jonglierende. ..
Handlungslogik"J, und auch nicht bloße »Subjektivität«, ein Ab- sehen
davon, daß »hinter der Oberfläche der Lebenswelten eine hocheffiziente,
engmaschige Institutionengesellschaft ist«.4 Irn Gegenteil, es ist ein alles
andere als gesellschaftsfreier Raum, in dem sich die modernen Subjekte mit ihren
Handlungsoptionen bewegen. Die Regelungsdichte der modernen Gesellschaft ist be-
kannt bis berüchtigt (vom TÜV bis zur Steuererklärung bis zu Müllsortierungsbestimmungen),
irn Summeneffekt ein höchst dif-
ferenziertes
Kunstwerk mit labyrinthischen Anlagen.
Das entscheidende Kennzeichen dieser modernen
Vorgaben ist, daß das Individuum sie, weit mehr als früher, gewissermaf~en
selbst herstellen muß, irn eigenen Handeln in die Biographie hereinholen muß.
Das hat wesentlich damit zu tun, daß die traditionellen Vorga-
ben oft
rigorose Handlungsbeschränkungen, ja Hanalungsverbote beinhalteten (wie etwa
die Heiratsverbote der vorindustriellel Gesell- schaft, die den besitzlosen Bevölkerungsgruppen
eine Eheschließung unmöglich machten; oder die Reiseverbote und Heiratsverbote
der Ostblockstaaten, die Kontakt zum »Klassenfeind« untersagten). Dagegen sind
die. institutionellen Vorgaben der modernen west- lichen Gesellschaft eher
Leistungsangebote bzw. Handlungsanrei- ze- man denke etwa an den
Wohlfahrtsstaat, von Arbeitslosengeld bis zu BAföG und Bausparprämien.
Vereinfacht gesagt: In die tra- ditionelle Gesellschaft und ihre Vorgaben wurde
man hineingebo- ren (wie etwa in Stand und Religion). Für die neuen Vorgaben
dagegen muß man etwas tun, sich aktiv bemühen. Hier muß man erobern,
in der Konkurrenz um begrenzte Ressourcen sich durch-
zusetzen verstehen -und dies nicht nur
einmal, sondern tagtäglich. 12
Die
Normalbiographie wird damit zur »Wahlbiographie«, zur »reflexiven Biographie«,
zur »Bastelbiographie«.s Das muß nicht gewollt sein, und es muß nicht
gelingen. BasteIbiographie ist im- mer zugleich »Risikobiographie«, ja »Drahtseilbiographie«,
ein Zustand der (teils offenen, teils verdeckten) Dauergefährdung. Die fassaden
von Wohlstand, Konsum, Glimmer täuschen oft dar- über hinweg, wie nah der
Absturz schon ist. Der falsche Beruf oder die falsche Branche, dazu die privaten
Unglücksspiralen von Scheidung, Krankheit, Wohnungsverlust -Pech gehabt! heißt
es dann. fm falle des falles wird offen erkennbar, was untergründig
immer schon angelegt ist: Die BasteIbiographie kann schnell zur Bruchbiographie
werden. An die Stelle selbstverständlich vorge- gebener, oft erzwungener
Bindungen tritt das Prinzip »Bis auf weiteres«, wie Zygmunt Bauman sagt:
»Heutzutage scheint alles sich gegen.
..lebenslange Entwürfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bündnisse, unwandelbare
Identitäten zu verschwören. Ich kann nicht langfristig auf meinen
Arbeitsplatz, meinen Beruf, ja nicht einmal auf meine eigenen Fähigkeiten
bauen; ich kann darauf wetten, daß mein Arbeitsplatz wegrationalisiert wird, daß
mein Beruf sich bis zur Un- kenntlichkeit verändert, daß meine Fähigkeiten
nicht länger gefragt sind. Auch auf Partnerschaft oder Familie ist in Zukunft
nicht mehr zu gründen; im Zeitalter dessen, was Anthonv Giddens 'confluent love,
nennt, währt das Beisammensein nicht länger ~Is die Befriedigung eines der
Partner, die Bindung gilt von vornherein nur ,bis auf weiteres" die
intensive Bindung von heute macht Frustrationen morgen nur um so heftiger.«
Kennzeichen der Gegenwart ist so eine Art
~Landstreicher- Moral«:
Der Landstreicher »weiß nicht, wie lange er
dort, wo er ist, noch bleiben wird, und zumeist ist nicht er es, der über die
Dauer seines Aufenthalts befindet. Unterwegs wählt er sich seine Ziele, wie sie
kommen und wie er sie von den Wegweisern abliest; aber selbst dann weiß er
nicht sicher, ob er an der nächsten Station Rast machen wird, und für wie
lange. Er weiß nur, daß seines Bleibens sehr wahrscheinlich nicht lange sein
wird. Was ihn forttreibt, ist die Enttäuschung über den Ort seines letzten
Verweilens sowie die nie versagende Hoffnung, der nächste Ort, von ihm noch
nicht besucht, oder vielleicht der übernächste möchte frei sein von Mängeln,
die ihm die bisherigen verleidet haben.«6
Sind dies, wie manche vermuten, Zeichen von
Egoismus und He- donismus, eines im Westen grassierenden Ego-fiebers? Nein, man
schau genauer hin: Ein weiteres Kennzeichen der Vorgaben der
13
Moderne
ist, daß sie eher gegen als für familiales Zusammenleben und Zusammenhalt
wirken. Die meisten Rechte, Anspruchsvor- aussetzungen für Unterstützungsleistungen
des Wohlfahrtsstaates sind, wie gesagt, auf Individuen zugeschnitten, nicht auf
Familien. Sie setzen in vielen Fällen Erwerbsbeteiligung (oder, im Falle von
Arbeitslosigkeit, Erwerbsbereitschaft) voraus. Erwerbsbeteili- gung wiederum
setzt Bildungsbeteiligung, beides Mobilität und Mobilitätsbereitschaft voraus,
alles Anforderungen, die nichts be- fehlen, aber das Individuum dazu auffordern,
sich gefälligst als Individuum zu konstituieren: zu planen, zu verstehen, zu
entwer- fen, zu handeln -oder die Suppe selbst auszulöffeln, die es sich im
Falle seines ~Versagens« dann selbst eingebrockt hat. Der Sozial- staat ist
derart eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ich- bezogener Lebensweisen.
Man mag das Gemeinwohl mit einer Pflicht-Impfung in die Herzen der Menschen
spritzen, die gerade heute wieder öffentlich heruntergebetete Litanei der
verlorenge- gangenen Gemeinsamkeit ist doppelzüngig, doppelmoralisch, so- lange
die Mechanik der Individualisierung intakt bleibt und nie- mand sie wirklich
ernsthaft in Frage stellt -weder will noch kann.
Auch hier wieder dasselbe Bild:
Entscheidungen, möglicher- weise unentscheidbare Entscheidungen, unter
Vorgaben, die in Dilemmata hineinführen -aber eben Entscheidungen, die den ein-
zelnen als einzelnen ins Zentrum rücken und traditionale Lebens- und
Umgangsformen mißlohnen.
Individualisierung, so gesehen, ist eine
gesellschaftliche Dyna- mik, die nicht auf einer freien Entscheidung der
Individuen be- . ruht. Um es mitJean-Paul Sartre zu sagen: Die Menschen sind zur
Individualisierung verdammt. Individualisierung ist ein Zwang, ein paradoxer
Zwang allerdings, zur Herstellung, Selbstgestal- tung, Selbstinszenierung nicht
nur der eigenen Biographie, son- dern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke, und
dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung
mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildung5system, Wohlfahrtsstaat
usw.
Zu den entscheidenden Merkmalen von Individualisierungs- prozessen gehört
derart, daß sie eine aktive Eigenleistung der Individuen nicht nur erlauben,
sondern fordern. In erweiterten Optionsspielräumen und Entscheidungszwängen wächst
der indi- vidueIl abzuarbeitende Handlungsbedarf, es werden Abstim-
."- 14
""
mungs-,
Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. Die Individuen müssen, um
nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich anpassen können,
müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen,
Niederla- gen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initia- tive,
Zähigkeit, Flexibilität und Frustrationstoleranz.
Chancen,
Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die früher im Familienverbund, in der
dörflichen Gemeinschaft, im RÜck- griff auf ständische Regeln oder soziale
Klassen definiert waren, mÜssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen,
interpre. tiert, entschieden und bearbeitet werden. Die Folgen -Chancen wie
Lasten -verlagern sich auf die Individuen, wobei diese frei- lich, angesichts
der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zu- sammenhänge' vielfach kaum in
der Lage sind, die notwendig werdenden Entscheidungen fundiert zu treffen, in
Abwägung von Interesse, Moral und Folgen.
Dabei wird
vielleicht erst im Generationenvergleich spürbar, wie schnell die Anforderungen
steigen, denen die Individuen jetzt ausgesetzt sind. In einem Roman von Michael
Cunningham fragt die Tochter die Mutter, warum sie den Vater geheiratet hat: ,.Wußtest
du, daß du von allen Menschen auf dieser Welt ausgerechnet ihn
heiraten wolltest? Hast du nie Angst gehabt,
du könntest einen riesigen Fehler machen, irgendwie die richtige Spur deines
Lebens verlieren und sonstwo landen, auf irgendeiner Tangente, von der du nie
zurückkommen kannst?« Doch die Mutter .winkte die Frage ab wie eine trage,
aber beharr- liche Fliege. ,Damals stellten wir nicht so große Fragen., sagte
sie. ,Ist es nicht schwer für euch, immer all dieses Nachdenken und Überlegen
und Planen?«'
Ähnlich schildert Scott Turow in einem Roman
eine Begegnung zwischen Vater und Tochter:
.Während er Sonny zuhörte, die zwischen
impulsiven Gefühlen hin- und hergeschleudert wurde -Flehen, Bedrängnis,
Ironie, Ärger -, sah Stern mit einem Mal, daß Clara [seine Frau] und er von
einem gütigen Schicksal profitiert hatten. Damals, zu seiner Zeit, waren die
Vorgaben klarer. Alle Männer und Frauen der westlichen Welt, die in der
Mittelschicht aufge- wachsen waren, wollten damals heiraten, Kinder bekommen und
aufzie- hen. Undsoweiter. Jeder reiste in denselben ausgetretenen Spuren. Aber fürSonny,
die spät heiratete, in der Neuen Epoche, war alles eine Frage der Entscheidung.
Sie stand morgens auf und fing alles von vorne an. Sie dachte über Beziehungen,
Ehe, Männer nach, über den unberechenbaren Gefähr- ten, den sie sich
ausgesucht hatte -nach ihrer Beschreibung schien er noch
.IJi
ein halber
Junge zu sein. Er erinnerte sich an Marta, die oft sagte, sie würde einen männlichen
Begleiter ebenso schnell finden, wie ihr einfiel, wozu sie ihnbrauchenkonnte.«1
Dem einen klingen solche Beispiele vertraut.
Dem anderen schei- nen sie fremd, Geschichten aus einer fernen Welt. Daran wird
deutlich: Es gibt nicht ~die« individualisierte Gesellschaft. Unbe- streitbar
ist die Situation in Großstädten wie München oder Berlin anders als in
Vorpommern oder Ostfriesland. Zwischen städti- schen und ländlichen Regionen
finden sich deutliche Unter- schiede, empirisch nachweisbar etwa in bezug auf
Lebensstil und Familienform.' Was hier längst selbstverständlich, Teil des
Nor- malen, ist dort auffallend, irritierend, bedrohlich. Wobei freilich
Lebensformen und -orientierungen der Stadt -gebrochen und an- ders eingefärbt
-sich auch auf dem Land ausbreiten. Individuali- sierung meint, beinhaltet
Urbanisierung. Urbanisierung aber trägt die Leitbilder der Welt draußen bis in
die Wohnstube im Dorf, über Bildungsexpansion, über Fremdenverkehr, nicht
zuletzt auch über Werbung, Massenmedien und Massenkonsum. Auch wo die scheinbar
festgefügten Lebensstile und traditionalen Sicherheiten gewählt und inszeniert
werden, sind dies oft genug E.ntscheidungen gegen neue Sehnsüchte und geweckte
Bedürf- russe.
So ist je
nach Gruppe, Milieu, Region zu prüfen, wie weit Indi- vidualisierungsprozesse
-offen oder verdeckt -jeweils ausgeprägt und fortgeschritten sind. Keineswegs
wird behauptet, die Ent- wicklung habe flächendeckend und unterschiedslos die
gesamte . BevÖlkerung erfaßt. Vielmehr ist das Stichwort ~Individualisie- rung«
als Trendaussage zu verstehen. Die Systematik der Ent- wicklung ist
entscheidend, die mit dem Fortschreiten der Moderne verknüpft ist. Martin
Baethge schreibt: ~. ..was das Morgen an- kündigt, kann ja h.eute kaum schon
repräsentativ sein«.I° In die- sem Sinne ist Individualisierung beides
-exemplarische Gegen- wartsdiagnose und Zukunftsmusik.
Was sich im Zuge dieser Entwicklung letztlich
ankündigt, ist das Ende der festen, vorgegebenen Menschenbilder. Der Mensch
wird (im radikalisierten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglich- keiten, zum
homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körper- lichkeit, Identität, Religion,
Ehe, Elternschaft, soziale Bindun- gen -alles wird sozusagen bis ins
Kleingedruckte hinein I entscheidbar, muß, einmal zu Optionen zerschellt,
entschieden I
16 ,
werden.11
tm besten Fall erinnert diese Konstellation an den Baron von Münchhausen, dem
gelungen sein soll, was heute zum allge- meinen Problem wird: sich an seinem
eigenen Schopfe aus dem Sumpf der (Un)Möglichkeiten zu ziehen. Am klarsten hat
(mit pessimistischem Zungenschlag) diese artistische Zivilisationslage wohl
Gottfried Benn gefaßt: .Denn meiner Meinung nach fängt die Geschichte des
Menschen heute erst an, seine Gefährdung, seine Tragödie. Bisher standen noch
die Altäre der Heiligen und die Flügel der Erzengel hinter ihm, aus Kelchen
und Taufbecken rann es über seine Schwächen und Wunden. Jetzt beginnt die
Serie der großen unlösbaren Verhängnisse seiner selbst. ..«12
.1. Von der Unlebbarkeit der Moderne:
Co-','?' Entroutinisierung des Alltags
Es sagt sich leicht: Sicherheiten zerbrechen
und kreisen nun in den
Fragen, in
die sie zerschellen, in den Köpfen herum. Aber es ist mehr als das. Soziales
Handeln vollzieht sich eingebettet in Routi- nen. Man kann sogar sagen: Was wir
nicht oder kaum wissen, prägt unser Denken und Handeln am tiefsten. Es gibt
einen gro- Ren Literaturkreis, der in diesem Sinne die Entlastung, genauer: die
Unverzichtbarkeit von vor- und halbbewußt verinnerlichten Routinen betont, weil
in ihnen erst die Lebensführung und Identi- tätsfindung der Menschen in ihrer
sozialen Koordination möglich wird.
Es geht im
Alltag, wie Hartmann Tyrell zeigt, wesentlich
-um die zeitliche Ordnung des Tuns. ..Aber
nicht allein die zeitliche Ordnung als solche ist wichtig, sondern ebensosehr
die damit verbundene Erlebnisschicht des ,Immer wieder" des Normalen, des
Regulären, des Überraschungsfreien. Zugleich ist der Alltag eine Sphäre der
reduzierten - Aufmerksamkeit, des routinisierten Tuns, der entlastet-sicheren
Verfüg- barkeit, also des ,Immer-wieder, des Tunkönnens. ..Es geht um das -
mitunter in einem dezidiert partikularistischen Sinne -,bei unsc, im fami-
lialen Zusammenleben, im Dorfe, in der Region usw. alltäglich Übliche und
Vertraute. .., also um das, was ,bei uns, jeder tut.«13
Genau diese Ebene von vorbewußten
.kollektiven Habitualisie- rungen«, von SelbstVerständlichkeiten ist es, die mürbe
wird, ins Denken und Verhandeltwerdenmüssen zerstaubt. Die liefen- schicht von
Entscheidungsverschlossenem wird in die Entschei-
17 c"
dung gedrängt.
Daher das Nervende, Wundscheuernde, endlos Lästige- und die entsprechenden
Abwehr-Aggressionen dagegen. Man kann den Fragen und Entscheidungen, die aus dem
Boden der Lebensführung emporsteigen, weder entkommen, noch kann man sie zurückverwandeln
in schweigenden Grund, auf dem sich leben läßt. Jedenfalls gelingt dies immer
nur zeitweise, vorläufig, durchsetZt mit Fragen, die jederzeit erneut
aufbrechen können. Nachdenken, Überlegen, Planen, Abstimmen, Aushandeln, Fest-
legen, Widerrufen (und alles fängt immer wieder von vorne an): Das sind die
Imperative der -riskanten Freiheiten«, unter die das Leben mit Fonschreiten der
Moderne gerät. Auch die Nichtent- scheidung, die Gnade des Hinnehmenmüssens
verflüchtigt sich. Manchmal tritt an ihre Stelle ein Zwitter, der das
Vergangene zu- rückgaukelt: die Entscheidung für den Zufall, die Entscheidung
für die Nichtentscheidung, ein Versuch, der die Zweifel verjagen soll und doch
bis in die inneren Dialoge hinein von ihnen verfolgt wird.
-Ich glaubte, daß ich bald schwanger würde.
Ich nahm keine Verhütungs- mittel mehr. Aber irgendwie konnte ich es niemand
sagen, weder Bobby noch Jonathan. Wahrscheinlich schämte ich mich über meine
Motive. Ich gefiel mir nicht in der Vorstellung, berechnend oder hinterhältig
zu sein. Ich wollte nur eines: zufällig schwanger werden. Der unerwartete
Nachteil des modernen Lebens besteht darin, daß wir das Schicksal besiegt
haben. Von uns wird erwartet, daß wir vieles, fast alles entscheiden. ..In
einer anderen Epoche hätte ich Kinder bekommen, als ich in den Zwanzigern war,
während meiner Ehe mit Den ny. Ich wäre Mutter geworden, ohne groß darüber
nachzudenken. Ohne die Konsequenzen abzuwägen.«14
Das Leben verliert seine Selbstverständlichkeit,
heißt: selbst der soziale -Instinkt-Ersatz«, der es trägt und leitet, gerät
in die Mü- hen und Mühlen dessen, was bedacht, bestimmt werden muß. Wenn es
richtig ist, daß Routinisierung und Institutionalisierung eine entlastende,
Individualität und Entscheidung ermöglichende Funktion haben, dann wird
deutlich, welche Art von Beschwer- nis, Anstrengung, Nervigkeit mit dem Zermürben
der Routinen entsteht. Ansgar Weymann verweist auf die Anstrengungen, die das
Individuum unternimmt, um dieser -Tyrannei der MÖglich- keiten« (Hannah
Arendt) zu entkommen -z. B. durch Flucht in Magie, Mythos, Metaphysik. Das überforderte
Individuum -sucht, findet und produzien zahllose Instanzen sozialer und psy-
chischer Interventionen, die ihm professionell-stellvenretend die
18
frage nach
dem ,Was bin ich und was will ich, abnehmen und damit die Angst vor der freiheit
mindern",'s Hier haben die Ant- wort-fabriken, der Psychoboom, die
Ratgeber-literatur ihren Markt, jene Mischung aus Esoterik, Urschrei, Mystik,
Yoga und Freud, die die Tyrannei der Möglichkeiten übertönen soll und im
Wechsel der Moden weiter bestärkt, Nun sagen
manche, wer von Individualisierung spricht, meine Autonomie, Emanzipation,
ebenso Befreiung wie Selbstbefreiung des Menschen,'6 Dies erinnert dann an jenes
stolze Subjekt, von der Philosophie der Aufklärung postuliert, das nichts
gelten lassen will als die Vernunft und ihre Gesetze. Aber manchmal scheint
statt Autonomie eher Anomie vorzuherrschen, ein Zustand der Regellosigkeit bis
hin zur Gesetzlosigkeit (wobei Emile Durkheim in seiner klassisch gewordenen
Studie Anomie geradezu als das "Übel der fehlenden Grenzen" versteht,
als Zeit der überborden- den, nicht mehr durch gesellschaftliche Schranken
disziplinier- ten Wünsche und Begierden'7). Jede Verallgemeinerung, die die
individualisierte Gesellschaft nur unter dem einen oder anderen Vorzeichen
-Autonomie oder Anomie -begreifen will, verkürzt und verstellt die Fragen, die
,hier aufbrechen. Kennzeichnend
sind
Mischformen, Widersprüche, Ambivalenzen (abhängig von politischen,
wirtschaftlichen, familialen Bedingungen), Kenn- zeichnend ist die
"Bastelbiographie«'8, clie -je nach Konjunk- turverlauf,
Bildungsqualifikation, lebensphase, familienlage, Kohorte -gelingen oder in eine
Bruch-Biographie umschlagen kann. Scheitern und unverzichtbare freiheit wohnen
nah beiein- ander, mischen sich vielleicht sogar (z.B. in der »gewählten«
Single- Existenz) ,
In jedem
fall rühren die Themen, an denen die einzelnen 3ich abarbeiten, in die
verschiedensten lebensbereiche hinein. Es kön- nen "kleine« fragen sein
(etwa um die Verteilung der Hausarbeit kreisend), aber auch »große«, die Tod
und leben einschließen (von der Pränataldiagnostik bis zur Intensivmedizin).
Die Entrou- tinisierung entläßt also fragen von ganz unterschiedlichem sozia-
len und moralischen Format. Durchgängig aber gehen sie ans Zentrum der
Existenz. Man kann geradezu sagen: Die Entschei- dungen der lebensführung
werden "vergottet«. fragen, die mit
Gott untergegangen sind, tauchen nun im
Zentrum des lebens neu wieder auf. Der Alltag wird postreligiös
"theologisiert«.
Es läßt
sich eine säkulare linie zeichnen: Gott, Natur, soziales 19
System.
Jede dieser Kategorien und Sinnhorizonte ersetzt in ge- wisser Weise die
vorangegangenen und steht für eine Art von Selbstverständlichkeit und eine
Legitimitätsquelle sozialen Han- deIns, die als eine Abfolge säkularisierter
Notwendigkeiten ge- dacht werden kann. In dem Maß, wie die Dämme durchlässig
werden und brechen, verwandelt sich, was einmal Gott vorbehal- ten oder von der
Natur vorgegeben wurde, nun in Fragen und Entscheidungen, die in der privaten
Lebensführung ihren Ort ha- ben. (Mit den Erfolgen der Fortpflanzungsmedizin
und Human- genetik gerät die Anthropologie des Menschen sogar wortwörtlich in
die Entscheidung.) Insofern kann man in einer kulturgeschicht- lichen
Perspektive sagen: Die Moderne, die mit dem Anspruch der Selbstermächtigung des
Subjekts angetreten ist, löst ihr Verspre- chen ein. Mit der Durchsetzung der
Moderne tritt in kleinen und großen Schritten an die Stelle von Gott, Natur,
System das auf sich selbst gestellte Individuum. Mit dem Untergang der alten
Koordi- naten geht auf, was verteufelt und bejubelt, verlacht, heilig und
schuldig gesprochen, totgesagt wurde: die Frage nach dem Indivi- duum. ~
I 3. Was ist neu an
Individualisierungsprozessen ? Das Beispiel der Sozialgeschichte der Ehe
In seinem 1860 erschienenen Buch Die
Kultur der Renaissance i. Italien schreibt Jakob Burkhardt:
E Im
Mittelalter lag das Bewußtsein der Menschen »wie unter einem gemein,. I samen
Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus i Glauben,
Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen er- , schienen Welt und
Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber er- ; kannte sich nur als Rasse,
Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in . irgend einer Form des
Allgemeinen. In ltaljen zuerst verwehte dieser Schleier in die Lüfte; es
erwachte eine objektive Betrachtung und Behand- lung des Staates und sämtlicher
Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber ; erhebt sich mit voller Macht das
Subjektive; der Mensch wird geistiges ! Individuum und erkennt sich al$ solches.«
i
Burkhardts Schilderung der Renaissance trägt
-paradox gesagt -
IZüge der Postmoderne. Alles wird von Moden
erfaßt; der poli- tisch indifferente Privatmensch entsteht; Biographien und
Selbst-
biographien werden geschrieben und erfunden;
die Bildung der
.10 --_1
Frauen
formt sich nach männlichen Idealen. ~Das Ruhmvollste, was damals von den großen
Italienerinnen gesagt wurde, ist, daß sie einen männlichen Geist, ein männliche~
Gemüt hätten.« Aus dem Horizont des 19. Jahrhunderts merkt Burkhardt an, hier
ent- stehe ein "Etwas. .., das unserem Jahrhundert, wie Schamlosig- ",
keit vorkömmt«.19
1' Wer
diese und ähnliche Schilderungen liest, fragt: Was ist neu
u~d spezifisch an den
Individualisierungsprozessen in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts?20
Knapp und direkt geantWortet: ~ Das historisch Neue besteht darin, daß das, was
früher wenigen ~ zugemutet wurde -ein eigenes Leben zu führen -, nun mehr und
mehr Menschen, im Grenzfall allen abverlangt wird. Das Neue ist erstens die
Demokratisierung von Individualisierungsprozessen und zweitens (eng damit
zusammenhängend) die Tatsache, daS Grundbedingungen der Gesellschaft
Individualisierungen begÜn- stigen bzw. erzwingen (Arbeitsmarkt, Mobilitäts-
und Ausbil- dungsanforderungen, Arbeits- und Sozialrecht, Rentenvorsorge etc.):
die institutionalisierte Individualisierung.
Diese
Geschichte der Ausbreitung und Durchsetzung von Indi- vidualisierungen kann a\l
verschiedenen sozialen Phänomenen und Gebilden nachgezeichnet werden. fm
folgenden soll dies exemplarisch und skizzenhaft anhand der Sozialgeschichte der
Ehe geschehen. Vorweg als These formuliert: Während die Ehe früher zuallererst
eine individuumüberhobene Institution sui ge- neris war, wird sie heute immer
mehr zum Produkt und Konstrukt der sie eingehenden Individuen. Betrachten wir
nun diesen histo- rischen Bogen genauer:
Noch im 17. und 18. Jahrhundert ist die Ehe
nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten zu begreifen, als direk-
ter Bestandteil der Gesellschaftsordnung. Sie ist eine dem indi- viduellen
Zugriff weitgehend verschlossene, sozial verbindliche Lebens- und Arbeitsform,
in der Männern und Frauen bis in die Einzelheiten des Alltags, der Arbeit, der
Wirtschaft, der Sexualität vorgegeben ist, was sie zu tun und zu lassen haben.
(Natürlich hal- ten sich keineswegs alle daran. Aber das soziale Netz von
Familien- und Dorfverband ist eng, die Kontrollmöglichkeiten sind allgegen- wärtig.
So hat, wer gegen die herrschenden Normen verstößt, oft mit empfindlichen
Sanktionen zu rechnen.) Zugespitzt formuliert: Die Ehe ist eine Art
verinnerlichtes "Naturgesetz«, das -abgeseg- net durch Gott und die
Autorität der Kirche, gesichert durch die
21 ,:;~~,'
materiellen
Interessen der darin Zusammengebundenen -in der Ehe sozusagen -exekutiert«
wird. Deutlich tritt dies an einem scheinbaren Gegenbeispiel, nämlich einer erkämpften
Scheidung, hervor, von der Gisela Bock und Barbara Duden berichten:
-Anfang des 18. Jahrhunderts erschienen im
Gebiet SeineiMame in Frank- reich vor dem zuständigen Kirchengericht zwei
Leute: Jean Plicque. Wein- bauer in Villenoy, und Catherine Giradin, seine Frau.
Sieben Monate vorher hatten sie wegen absoluter Unverträglichkeit mühsam eine
Tren- nung von 1isch und Bett durchgesetzt. Jetzt kommen sie wieder und erklären,
daß es für sie nicht nur besser, sondern vor allem ,viel vorteilhaf- ter und nützlicher
sei, sich zusammen zu tun, als getrennt zu bleiben(. Die Einsicht dieses Paares
ist typisch für sämtliche ländlichen und städtischen Wirtschaften: Mann und
Frau waren aufeinander angewiesen, weil und solange es jenseits der familialen
Gesamtarbeit keine Nahrungs- und Er- werbsmÖglichkeit gab.«21
Die Einsicht dieses Paares bringt auf den
Punkt, was für die vorin- dustrielle Welt (bei aller Vielfalt) typisch zu sein
scheint. Es gibt (abgesehen von Kirche und Kloster) keine gesicherte materielle
Existenzbasis jenseits der Ehe. Diese hat ihren Grund und Kitt nicht in der
Liebe, sondern in der religiösen Verbindlichkeit und materiellen Verankerung
ehelicher Arbeits- und Lebensformen. Wer den Sinn dieser Institution Ehe
begreifen will, muß geradezu von den Individuen abstrahieren und das übergreifende
Ganze einer letztlich in Gott, im Jenseits begründeten Ordnung ins Zen- trum
stellen. Die Ehe dient hier nicht dem individuellen Glück, sondern der
Sicherung der Erbfolge, der familial begründeten Herrschaft im Adel usw. An ihr
hängt die Stabilität der gesell- schaftlichen Ordnung und Hierarchie in einem
sehr greifbaren Sinne.
Mit der
beginnenden Moderne lockert sich der übergeordnete Sinnzusammenhang sozialer
Existenzformen. Der Zug zur Indi- vidualität -zunächst des bürgerlichen, auf
privaten Kapitalbesitz gegründeten -Markt-Individuums« -stellt die Schwerkraft
der kollektiven Identitäten und Handlungseinheiten in Frage, zumin- dest
latent. In der Trennung von Familien- und Wirtschaftssphäre zerbricht die
Arbeits- und Wirtschaftseinheit von Mann und Frau. Bezeichnenderweise wird diese
Auflösung der materiellen Basis ehelicher Gemeinschaft mit einer Überhöhung
der moralischen und rechtlichen Grundordnung der Ehe beantWortet. Auch hier wird
die Ehe -deduktiv«, also von oben nach unten, gerechtfer-
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tigt. nun
aber mit moralischen Ausrufungszeichen. als Eckpfeiler der bürgerlich-christlichen
Weltordnung. Noch im EntWUrf für das Bürgerliche Gesetzbuch. 1888 erschienen.
heißt cs: ~Ein deutsches bürgerliches Ges.B. wird der christlichen Gesamtan-
schauung im Volke gemäß. ..davon auszugehen haben. daß im Eherecht nicht das
Prinzip der individuellen Freiheit der Ehegat- ten herrscht. sondern die Ehe als
eine von dem Willen der Ehegat- ten unabhängige sittliche und rechtliche
Ordnung anzusehen ist. «22
-Nicht das Prinzip der individuellen Freiheit«.
statt dessen eine , ~vom Willen der Ehegattl'l1 unabhängige Ordnung«: In der
Nega- tion schwingt die drohende Möglichkeit mit. Die,Gemeinsamkeit
, ist
allerdings eine einseitige. Der Ehefrau wird der eigene Name ausdrücklich
verwehrt. Der Familienname wird damit der des
: Mannes.
Exemplarisch wird das Allgemeine mit der Macht -hier: i des Mannes
-gleichgesetzt. So heißt es noch 19 S6 in einem Urteil: I -Vielmehr läßt Art.
6 GG die Gleichberechtigung im Familien- I recht nur so zum Zuge kommen. daß
unser herkömmlicher. I christlich bestimmter Familienbegriff dabei erhalten
bleibt. Allen f übersteigerten individualistischen Bestrebungen ist damit die
Aus- i wirkung im Eherecht versagt. ..Das muß auch für das eheliche
Namensrecht gelten.«23 Hier findet sich schon die Bannformel von den ~übersteigerten
individualistischen Bestrebungen«. die c nichts von ihrer Aktualität verloren
hat. Mit ihr soll der Beelzebub I des Individualismus ausgetrieben werden. I
FamilienstammbÜcher
sind eine ungeöffnete Fundgrube für I gleichsam ex cathedra verkündete
Wunschfamilienbilder. Zwei j sollen hier gegenübergestellt werden: eines aus
der Zeit des Natio- : nalsozialismus. eines aus den siebziger Jahren der
Bundesrepu- I blik.. Viel radikaler ~önnte .de~ G;e~ens~tz. kaum ausfall~n. D!e
i
GeleItworte
verdeutlIchen dIe mdlvlduallstlsche KonversIon. dle l'sich
in Deutschland innerhalb von nur drei Jahrzehnten -auch I amtlich! -vollzogen
hat. I Anfang der vierziger Jahre hieß es: ~Zum Geleit! Die Ehe kann i
nicht Selbstzweck sein. sondern muß dem
einen größeren Ziele,
der
Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse dienen. Adolf . Hitler.«2. Das
klingt wie ein Befehl und ist wohl auch so gemeint. Die Rassenlehre der
Nationalsozialisten ist ein extremes Beispiel. der ~Gegenmodernisierung«2s. die
die Maskerade der Vergangen- heit inszeniert, um die »Auflösungstendenzen«
der Moderne zu-
2.3 -
rückzuschrauben.
Sie betreibt -mit allen Mitteln -die hergestellte , Fraglosigkeit
blutsgemeinschaftlicher Reintegration. Die Ehe : wird so zur staatlichen
Zweigniederlassung, zum Kleinststaatsge- bilde, zur -Keimzelle des Staates«.
Sie gilt und dient als Ort der Reproduktion der -deutschen Rasse«.
Die kommentierenden Sätze im
Familienstammbuch der sieb- ziger Jahre lesen sich wie der Gegenschwur. Hier heißt
es: -Auf- gabe einer privatrechtlichen Ordnung der Ehe ist, sie nicht primär ,
im Dienste weiterer, außerhalb ihrer liegender Zwecke zu sehen, sondern in der
Ehe selbst den Hauptzweck zu finden.«26 Im heu- tigen Ehebuch ist also nicht
mehr von der »christlichen Welt- und Werteordnung« die Rede, auch nicht von »Staatszielen«,
schon gar . nicht von -Erhaltung der Rasse«. Statt dessen wird der Schritt von
der auf das Ganze zu der auf die Personen gerichteten Sicht aus- drücklich
fonnuliert. Da haut sich der Staat sogar gleichsam selbst auf die Finger, indem
er die von ihm angetrauten Eheleute davor warnt, das zu tun, was bis dahin
Grundsatz staatlichen Eherechts und staatlicher Ehepolitik war: Naturalisierung
überkommener Leitbilder.
-Vorsicht
ist insbesondere gegenüber der gefährlichen versu- chung geboten, die überkommenen
Leitbilder von Ehe und Fami- lie einfach ungeprüft als ,natürlichc hinzunehmen
und auf diese Weise rechtlich zu versteinern. Die rasche EntWicklung unserer
modernen Industriegesellschaft, die zunehmende Berufstätigkeit der Frau, die zu
erwartenden weiteren Arbeitszeitverkürzungen, der Umbau der Berufsbilder usw.
zwingen die Rechtsordnung zu unvoreingenommener Aufgeschlossenheit gegenüber
neuen Le- bensfonnen in Ehe und Familie. «27 Da klingt geradezu Soziologie
durch.
Doch den frisch Getrauten wird auch noch
dieser »Segens- spruch« Martin Walsers -in einem eigenen Kapitel-Die EheauflÖ-
sung« -wortwörtlich ins Stammbuch geschrieben: »Von einem gewissen Grad der
A'useinandersetzung an erscheinen sie [die Ehe- leute] wie zwei Chirurgen, die
einander andauernd ohne Narkose operieren, ,und lernen immer besser, was weh
tutc.«28 Das ist wit- zig-treffend und zeigt doch in kaum überbietbarer
Dramatik zum Kontrapunkt der »Rassenehe« oder der noch in den fünfziger Jah-
ren rechtlich verbindlichen »christlichen Ehe« den radikalen Wech- sel von der
individuumsenthobenen zur exkJusiv individuellen Interpretation des
Dreibuchstablers »Ehe« an. Hier wird nicht nur
14
in der
Eheschließung die Eheauflösung angesprochen. Ehe wird auch als
individualisiertes Programm institutionalisiert. Ihr Was, Wie, Wie lange wird
nun ganz in die Hände und Herzen der in ihr Verbundenen gelegt. Für das, was
Ehe ist, meint, gibt es jetzt nur I noch die eine Maxime: Das Skript ist die
Individualisierung der Ehe. Amdich wird hier sozusagen der Individual-Code der
Ehe verordnet. Womit zweierlei deudich wird: Auch alte Eheformen müssen nach
ihter bürokratischen Abdankung nun auf persÖn- liches Risiko gewählt und
gelebt werden. Schon das Stammbuch enthält sozusagen die Warnung: Die Ehe ist
-vergleichbar der über- höhten Geschwindigkeit auf kurvenreicher Strecke -ein
persönlich riskantes Unternehmen, für das Versicherungen nicht haften.
Zum anderen kann jetzt niemand sagen, was
hinter dem ach so gleichgebliebenen Standardetikett .Ehe« geschieht, möglich,
er- laubt, gefordert, tabu oder unverzichtbar ist. Diese Weltordnung der Ehe ist
von nun ab eine Individualordnung, die im Gang durch den Blick der Individuen
erfragt, rekonstruiert werden muß.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu
lassen: Auch die neue Individualordnung der Ehe ist nicht bloßes Produkt der
In- dividuen und ihr~r Wünsche. Sie ist vielmehr an institutionelle Vorgaben
gebunden -zentral zum Beispiel des Rechtssystems. Sie verweist auf die
Anforderungen von Bildungssystem, Arbeits- markt, Altersversorgung, die heute
bei beiden Partnern (nicht mehr wie früher nur beim Mann allein) auf eine
eigenständige (Erwerbs- )Biographie mit eigener Existenzsicherung angelegt
sind. Auch in bezug auf die Zweierbeziehung -diesen scheinbar ganz privaten, ja
intimen Bereich -bedeutet Individualisierung also keineswegs, daß die Erhöhung
von Wahlmöglichkeiten gleichbedeutend mit Regellosigkeit sei.29 Vielmehr zeigt
sich hier wie anderswo auch, was bei Talcott Parsons schon .institutionali-
° sierter
Individualismus« genannt wird.]Q Was in freier Überset- zung heißt, das
Individuum der Moderne wird auf vielen Ebenen mit der Aufforderung konfrontiert:
Du darfst und du kannst, ja du sollst und du mußt eine eigenständige Existenz
führen, jenseits der alten Bindungen von Familie und Sippe, Religion, Herkunft
und Stand; und du sollst dies gleichzeitig tun diesseits der neuen Vor- gaben
und Regeln, die Staat, Arbeitsmarkt, Bürokratie usw. ent- werfen. In diesem
Sinne ist auch die Ehe in ihrer modernen Version nicht bloß Individualordnung,
sondern eine »institutionenabhän- gige Individuallage«.
Ulrich Beck (und nochwer) in Riskante Freiheiten (Angebot: Buch)