...Wenn wir aber die immense Vielfalt der Lebensbedingungen bedenken, müssen wir zugeben, dass jede Erfahrung, die ausschliesslich auf einer individuellen Lebenswelt beruht, mit Notwendigkeit partiell und höchstwahrscheinlich einseitig ist. Solche Fehleinschätzungen lassen sich nur richtigstellen, wenn man die Erfahrungen aus einer Vielzahl von Lebenswelten versammelt und nebeneinanderstellt. Allein auf diese Weise zeigen sich die Unvollständigkeit der individuellen Erfahrung und das komplexe Geflecht von Abhängigkeiten und Verbindungen, in das sie verwoben ist. [24]

Nicht jeder schätzt es, wenn die Routine in Frage gestellt und unterbrochen wird.. Erinnern wir uns an Kiplings Hunderfüßler. Der lief mühelos auf seinen hundert Beinen, bis ein Schmeichler ihn ob seines ausgezeichneten Gedächtnisses lobte: Er wisse immer genau, dass er zunächst mit dem siebenunddreissigsten, danach erst mit dem fünfundachtzigsten usw. Bein auftreten müsse...
Auf grobe Weise ihrer Selbst bewusst gemacht, konnte die bedauernswerte Kreatur nicht mehr laufen... 
Doch bietet das Unvertrautwerden des Vertrauten Vorteile. Insbesondere eröffnet es 
neue und bisher ungeahnte Möglichkeiten, das eigene Leben bewusster und einsichtiger zu leben - vielleicht sogar mit mehr Freiheit und mehr Selbstbestimmung. [28]

Wenn wir genauer verstehen, wie die scheinbar natürlichen, unvermeidlichen, unveränderlichen, ewigen Aspekte unseres Daseins durch die Anwendung menschlicher Macht und menschlicher Ressourcen hervorgebracht werden, ist kaum einsehbar, warum menschliches Handeln - unser eigenes - sie nicht verändern und beeinflussen können soll. Das soziologische Denken verfügt über eine eigene Macht: die Macht, Verfestigtes aufzulösen... Ein Individuum, das diese Kunst beherrscht, ist weniger manipulierbar, kann Unterdrückung und Einschränkungen besser ausweichen 
und wird angeblich unüberwindlichen Kräften widerstehen.[29]

Soziologisch denken heisst, unsere Mitmenschen besser zu verstehen, ihre Sehnsüchte und Träume, ihre Schwierigkeiten und ihr Elend. Dadurch lernen wir, sie als Individuen gelten zu lassen, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben stärker zu respektieren...Deshalb kann die Soziologie schliessslich auch bei der Herstellung von Solidarität helfen, einer Solidarität, die auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Achtung aufbaut und sich im gemeinsamen Widerstand gegen das Leid und die Grausamkeit ausdrückt, durch die es verursacht wird. [29]

Toleranz könnte an die Stelle von Furcht und Abneigung treten. Das würde auch zu unserer eigenen Freiheit beitragen, denn keine Freiheitsgarantie ist stärker als die durch die Freiheit aller, auch derjenigen, die sich für eine andere Lebensweise entschieden haben. [30]

Die Stärkung der individuellen durch die Verankerung in der festen Basis einer kollektive Feiheit kann als Destabilisierung der herrschenden (und von ihren Wächtern als die soziale Ordnung an sich ausgegebenen) Machtverhältnisse angesehen werden. [30]

Vertrautheit ist der hartnäckigste Feind von Wißbegierde und Kritik -  und damit auch des Muts zu Veränderung und Erneuerung.

 

Textstellen, die sich auch bei anderen Themen der Sammlung - weil speziell dazu passend - befinden:

 

...keine Freiheitsgarantie ist stärker als die durch die Freiheit aller, auch derjenigen, die sich für eine andere Lebensweise entschieden haben. Nur unter dieser Voraussetzung können wir auch unsere eigene Freiheit leben.    Die Stärkung der individuellen durch die Verankerung in der festen Basis einer kollektiven Freiheit kann als Destabilisierung der herrschenden (und von ihren Wächtern als die soziale Ordnung an sich ausgegebenen) Machtverhältnisse angesehen werden. Deshalb wird der  Soziologie häufig von Regierungen und anderen Machthabern, die Kontrolle über die soziale Ordnung ausüben, „politische Unzuverlässigkeit“ attestiert (vor allem von solchen, die die Freiheit ihrer Bürger einschränken und ihren Widerstand gegen die als „natürlich“, „unvermeidlich“ und „vernünftig“ gerechtfertigten Reglementierungen brechen wollen). Wenn einen Kampagne gegen die „subversive Wirkung“ der Soziologie gestartet wird, kann man zweifelsohne davon ausgehen, dass ein weiterer Anschlag auf die Widerstandskraft der einzelnen gegen die Einschränkung ihrer Freiheit in Vorbereitung ist.

Was bedeutet es, eine Konsumhaltung zu besitzen, und wie drückt sie sich aus? Erstens wird das Leben als eine Abfolge von Problemen verstanden, die sich spezifizieren, mehr oder weniger deutlich definieren, einzeln herausgreifen und lösen lassen. Zweitens glaubt man, dass die Beseitigung des Problems eine Pflicht sei, die man nicht vernachlässigen dürfe, ohne Schuld und Schande auf sich zu ziehen. Drittens vertraut man darauf, dass es für jedes bereits bekannte oder künftig entstehende Problem eine Lösung gebe – sei es in Form eines bestimmten Gegenstandes oder einer von Spezialisten, von Leuten mit überlegenem Know-how, ausgeklügelten Methode -, so dass die eigene Aufgabe darin bestehe, diesen Gegenstand oder dieses Rezept ausfindig zu machen. Viertens geht man von deren grundsätzlicher Verfügbarkeit aus; sie sind für Geld zu haben, an sie heranzukommen heißt, einkaufen zu gehen. Fünftens übersetzt man die Aufgabe, die Kunst des Lebens zu lernen, in die Bemühung um die Fähigkeit, die richtigen Gegenstände  und Rezepte ausfindig zu machen, und um das Vermögen, sie in Besitz zu nehmen, wenn man sie gefunden hat: Man muss zu kaufen verstehen und Kaufkraft besitzen... Stück für Stück, Problem für Problem liefert die Konsumhaltung das gesamte Leben dem Markt aus; sie richtet jeden Wunsch und jede Bemühung auf die Suche nach Geräten und Expertenwissen aus, die man kaufen kann. Sie löst den Anspruch, Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu erlangen (die den meisten Menschen niemals vergönnt ist), in eine Vielzahl kleiner Kaufakte auf, die – jedenfalls im Prinzip – in der eigenen Reichweite liegen... Es wird nun zu meiner Pflicht (und, wie mir immer wieder bestätigt wird, auch zu einer Aufgabe, der ich gewachsen bin), mich und mein Leben zu verbessern, zu kultivieren und weiterzuentwickeln, meine Schwächen und die anderen quälenden Einschränkungen in meinem Leben zu überwinden.

...Weil sie das Verhältnis zwischen den befähigenden und den repressiven Funktionen des Staats ändern wollen, beanspruchen die Staatsangehörigen größeren Einfluss auf die staatliche Tätigkeit, auf die Gesetze, die der Staat erlässt und durchsetzt; sie fordern die Ausübung ihrer Bürgerrechte. Ein Staatsbürger zu sein bedeutet, über die Staatsangehörigkeit (die Trägerschaft der staatlich definierten Rechte und Pflichten) hinaus eine Stimme bei der Festlegung der Staatspolitik zu haben (d.h. bei der Definition solcher Rechte und Pflichten). Mit anderen Worten befähigt die Staatsbürgerschaft dazu, die Aktivität des Staates zu beeinflussen und damit an der Definition und praktischen Gestaltung von "Recht und Ordnung" mitzuwirken, die sich unter seiner Obhut befinden. Um einen derartigen Einfluss in der Praxis auszuüben, müssen die Staatsbürger einen gewissen Grad an Autonomie gegenüber staatlicher Regulierung genießen. Der staatlichen Einmischung in die Handlungsfähigkeit der Staatsangehörigen müssen Grenzen gesetzt sein. Auch hier finden wir wieder den Konflikt zwischen den befähigenden und repressiven Aspekten staatlichen Handelns.  Dieses Mal jedoch beziehen sich Befähigung und Repression auf das prinzipielle Vermögen, die Politik des Staates zu beeinflussen und etwaigen exzessiven Ansprüchen von seiner Seite einen Riegel vorzuschieben. Die Staatsbürgerschaft erfordert, dass der Staat in seiner Fähigkeit einzuschränken eingeschränkt wird; dass er nichts tut, um die Staatsbürger daran zu hindern, seine Politik zu kontrollieren, zu bewerten und zu beeinflussen.; sondern ganz im Gegenteil zu allem verpflichtet ist, was eine derartige Kontrolle und eine derartige Einflussnahme möglich und effektiv macht. Beispielsweise lassen sich Bürgerrechte nicht voll ausüben, wenn das staatliche Handeln von einem Schleier des Geheimnisses umgeben ist, wenn die "normalen Bürger" keinen Einblick in die Absichten und das Tun der politischen Führung haben, wenn ihnen der Zugang zu denjenigen Informationen verwehrt wird, die allein gestatteten, die Konsequenzen der Staatsaktivitäten realistisch einzuschätzen. Die Beziehungen zwischen dem Staat und den Staatsangehörigen sind oft gespannt, weil letztere sich gezwungen sehen, um die Erlangung ihrer Bürgerrechte zu kämpfen oder sie gegen die Bedrohung durch wachsende Ansprüche des Staates zu verteidigen...
...Der Arzt sagt nun dem Patienten, was zu tun ist. Er erwartet Disziplin, nicht Diskussionsbereitschaft. Denn schließlich fehlen dem Patienten sowohl das Wissen, um die Ursachen der Krankheit und den Weg zur Gesundung zu erkennen, als auch die Charakterstärke, um nach diesem Wissen zu handeln (im allgemeinen achten Ärzte darauf, indem sie sich hinter ihrem Spezialistenwissen verstecken, dass dieser Zustand des Unwissens und die daraus folgende Abhängigkeit erhalten bleiben). Die Forderung nach der Unterwerfung und bedingungsloser Unterordnung verbindet der Arzt mit der Erklärung, er täte dies nur zu des Patienten eigenem Besten. Der Staat rechtfertigt seine Forderung nach unbestrittener Durchführung seiner Maßnahmen in den gleichen Begriffen. Dies ist ein typisches Kennzeichen für pastorale Macht - Macht ausgeübt "im besten Interesse" der Staatsangehörigen, die gegen ihre eigenen krankhaften Neigungen geschützt werden müssen. Die Asymmetrie eines solchen Verhältnisses tritt am deutlichsten beim Informationsfluss zutage... 

über kultur

...Die Antworten (auf die Frage nach der Einordnung zweier vorher genannter Beispiele - eines für Natürliches, nicht Veränderbares, und eines für Veränderbares stehend, Anm.) finden sich um das Wissen um das, was Menschen tun können, und in unseren Überzeugungen darüber, was sie tun sollten. An erster Stelle steht die Frage, ob die Tat "in der Macht des Menschen" steht (ob Kenntnisse, Fertigkeiten oder eine Technologie existieren, verfügbar und einsatzfähig sind, um das entsprechende Stückchen oder diesen bestimmten Aspekt der Welt nach Gutdünken umzugestalten). Danach kommt die Frage, ob es einen Standard gibt, eine Norm, der das betreffende Objekt unterworfen werden sollte. Mit anderen Worten: Es gibt Dinge, die vom Menschen verändert und in etwas verwandelt werden können, was sie nicht sind. Solche Dinge sollen anders behandelt werden als jene, die nicht in der Macht des Menschen stehen. Die ersteren nennen wir Kultur, die letzteren Natur. Wenn wir deshalb einen Sachverhalt zur Kultur zählen und nicht zur Natur, implizieren wir, dass das betreffende Objekt veränderbar ist und dass ein wünschenswerter, "angemessener" Endzustand einer solchen Veränderung existiert.
Allein schon das Wort "Kultur" weist mit seinen Assoziationen in diese Richtung. Es stellt die Tätigkeit des Bauern oder Gärtners (in der Bibel wird ja, glaub ich, auch der Mensch hinsichtlich dessen sinnvoller Aufgabe als Gärtner bezeichnet, Anm. ob) vor Augen, der sorgfältig die Anlagen plant, die der Wildnis abgerungen und für Zivilisation gewonnen wurden, der das Saatgut und die zu pflanzenden Setzlinge wählt, ... Aber Bauern und Gärtner tun noch mehr. Sie reißen die unwillkommenen Gäste heraus, die "unerwünschten" Pflanzen, die "von sich aus" wuchsen und dadurch den gepflegten Entwurf der Anlage verdarben, den geplanten Ertrag des Feldes zu verringern drohten oder vom ästhetischen Ideal des Gartens ablenkten. Erwägungen über ihre Einträglichkeit oder die Vorstellung von Ordnung und Schönheit führten überhaupt erst zur Einteilung der Pflanzen - in Nutzpflanzen, die Objekte liebender Sorgfalt, und in Unkräuter, die ausgejätet oder mit chemischen Mitteln beseitigt werden sollen. Bauer und Gärtner sind es, die die Vision von der "Ordnung der Dinge" heraufbeschwören und dann ihre Fertigkeiten und Werkzeuge einsetzen, um diese Visionen zu verwirklichen, um die Realität "ordentlich" zu machen, d.h. ihrer Vision von Ordnung ähnlicher. (Man beachte, dass in den meisten Fällen die vorhandenen Fertigkeiten und Werkzeuge die Grenzen der Imagination von Bauer oder Gärtner bestimmen: Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden nur solche Ordnungsvisionen entwickelt, die beim gegenwärtigen Stand der Kultur verwirklicht werden können.) Hierin liegen auch die Kriterien zur Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen der Norm und der Abweichung von der Norm.
Die Tätigkeit von Bauer und Gärtner liefert ein zentrales Beispiel von Kultur als einer absichtsvollen Tätigkeit, und zwar einer ganz spezifischen: Einem bestimmten Abschnitt der Realität wird eine Form auferlegt, die andernfalls nicht dort wäre und ohne derlei Anstrengung auch gewiss nicht entstünde. Die Kultur macht Dinge anders, als sie sind und ohne kulturelle Tätigkeit werden müssen - und erhält sie in dieser hergestellten, künstlichen Form. Kultur ist es um die Einführung und Aufrechterhaltung einer Ordnung zu tun; sie bekämpft alles, was von dieser abweicht und von ihrem Standpunkt aus als Chaos erscheint. Kultur ersetzt oder ergänzt die "Ordnung der Natur" (d.h. den Zustand der Dinge vor jeder menschlichen Einwirkung) durch eine künstliche und geplante. Kultur erzeugt eine künstliche Ordnung nicht nur, sie verleiht ihr auch einen Wert. Kultur impliziert einen Vorzug. Sie lobt eine Ordnung als die beste, ja vielleicht sogar als die einzig gute. Alle Alternativen schwärzt sie als minderwertig, wenn nicht gar als vollständig ordnungslos an.
Wo genau die Grenzlinie zwischen Natur und Kultur verläuft, hängt selbstverständlich von den verfügbaren Fertigkeiten und Kenntnissen ab und davon, ob der Ehrgeiz vorhanden ist, mit ihnen Neuland zu beschreiten. Im großen und ganzen erweitert die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik den Umfang möglicher Bearbeitung bislang "natürlicher" Phänomene und dehnt folglich den Bereich der Kultur aus. ...

(Aus dem Kapitel 8 über Natur und Kultur in dieser Version)

 

Zygmunt Bauman in: Vom Nutzen der Soziologie (Angebot: Buch [Version, aus der auch die Auszüge stammen]; Titel der Originalausgabe [von 1990 laut Copyrightdatierung]: Thinking Sociologically)