Einleitung:
Eine aktuelle Einleitung und Kurzbeschreibung finden Sie hier
Ausgewählte Textstellen aus "Der Wahnsinn der Normalität" von Arno Gruen, die Sie auch thematisch verteilt auf der Website finden:
Kurzinterpretation der Redaktion: Wenn mensch seine Gefühle zugunsten von Anpassung (Konformismus) unterdrücken muss, führt das zu einem Hass gegen alles, das die eigenen Gefühle hervorruft bzw. gegen alle, die dies tun (indem sie gefühlvoll sind). Schlussendlich also gegen das Leben selbst, was beispielsweise ein spanischer Revolutionär laut Arno Gruen mit dem Ausruf "Lang lebe der Tod!" bezeugte.
Die nachfolgenden Textstellen stammen aus
dieser Version (Buchangebot*) des Buches Der Wahnsinn der Normalität
von Arno Gruen.
* das Buch ist übrigens auch in englischer Sprache erhältlich! Wenn nicht bei
oben verlinktem Anbieter, dann auf der englischen Seite dieses Anbieters (selbe
Adresse, aber mit Endung .com)!
Es mag auffallen, dass ich sehr oft auf die Literatur zurückgreife. Literatur und Dichtung sind meines Erachtens näher an der menschlichen Realität als etwa die psychologische Forschung. Diese orientiert sich viel zu stark am Mythos der „Realität“, am Mythos der daraus resultierenden Machtstrukturen. Der Künstler aber hat sich den Zugang zu den menschlichen Bedürfnissen und Beweggründen bewahrt. Ein Schriftsteller schreibt nicht zuletzt deshalb, weil er mit seiner schöpferischen Kraft gegen den Betrug der „herrschenden Meinung“ ankämpfen will. Er spricht noch in einer Sprache, die von der Ganzheit menschlicher Erfahrung weiß. Die Wissenschaft dagegen versucht, wie Michael Polanyi es treffend charakterisiert hat, „die menschliche Perspektive aus unserem Weltbild zu entfernen, um uns in die Absurdität zu führen.“ (Vorwort, S 12)
Kriminalstatistiken verzeichnen nur deshalb mehr Arme als Reiche, weil solche Statistiken der Ideologie der Reichen und Mächtigen unterliegen und weil sie nicht alle Formen von Destruktivität aufführen. Die Zivilisation und ihre Gehorsam fordernden Normen sind entscheidende Faktoren bei der Entstehung von Selbsthass. Dieser ist die Ursache für Unbehagen und Unglück. (S 18)
Sie [Alice Miller in einem ihrer Bücher, Anm.] argumentiert, als
ob das Verständnis für die determinierenden Einflüsse bereits die Heilung
bewirke. Tatsächlich führt das aber nur dazu, dass sich der Patient wollüstig im
Spiegel des therapeutischen Verständnisses sonnt, ohne sich ändern zu müssen.
Und der Therapeut wird, indem er sich als gute Mutter fühlt, nicht zu erkennen
brauchen, dass er den Patienten von sich abhängig gemacht hat. Also wiederholt
sich das Spiel zwischen dem Mächtigen und dem Abhängigen, zwischen der "guten"
Mutter und ihrem dankbaren Kind, das so nicht erwachsen zu werden braucht.
Eine andere Form der Verkrüppelung ist es, sich nur zum Schein zu unterwerfen,
um die eigene Autonomie zu verteidigen. Dies ist eine paradoxe Möglichkeit, sich
wenigstens die Fähigkeit zur Autonomie zu bewahren. (S 19)
Eugene O'Neill sprach einmal von einem Scheitern der USA, da sie immer darauf gerichtet seien, etwas außerhalb ihrer selbst zu besitzen, um in den Besitz der eigenen Seele zu kommen. Dadurch würden sie aber beides verlieren: die eigene Seele und das Eroberte. (S 28)
Wir neigen dazu, den Lügen zu glauben, wenn sie sich dazu eignen, unseren Hass zu schüren, aber es fällt uns schwer, das zu glauben, was uns Mitgefühl für ein Opfer abverlangen würde. (S 92)
Was hat es mit dem Rebellen auf sich, der in Wort und Tat
alle Erscheinungsformen des Konformisten ablehnt? Er sucht das Bessere, den weg
zur Menschlichkeit, betont sein Anderssein, um nur ja nicht angepasst zu
erscheinen - doch auch er hat Züge der Gewalttätigkeit. (S 116)
(INTERPRETATION VON OB der Textstelle über Paula ab S 118 unten bis S 119 unten
des Buches: Pro einer Rebellion durch Gefühle zulassen und dadurch Instabilität,
im Sinne von nicht immer leistungsfähig sein im Gegensatz zur Stabilität des
"starken" Rebellen und gefühllosen Konformisten. Wer sich für diese Textstelle
interessiert, kann sie auf den entsprechenden Seiten in der verlinkten
Buchausgabe nachlesen)
Arno Gruen über den "Kampf fürs Proletariat" bzw. über
(linken als auch rechten) Terrorismus, u.a. am Beispiel des momentan populären
Antonio Negri (Buch "Empire"), auf der Seite 126 (Auszüge aus der Textstelle):
Mit diesen orgiastischen Vorstellungen (Negris vom Kampf für's Proletariat, von
dem er in seinem Buch 'Sabotage' schwärmt, Anm.) entfernt sich der Schreibende
selbst sowie vermutlich seine Leser von den realen Folgen, die das mörderische
Tun bei den Betroffenen hat. Durch diese Transformation verliert der Mörder
völlig das Gefühl für Verantwortung... Antonio Negri wurde ganz offensichtlich
vom Risiko als solchem erregt. Das erinnert an einen der Revolutionäre in
Dostojewskis Roman 'Die Dämonen', über den er schrieb: "Er zog es vor, alles zu
riskieren, nur um nicht in Ungewissheit zu bleiben". Unsicherheit ruft Angst
hervor, und die macht uns sehr zum Risiko bereit. Negri romantisierte und
sexualisierte das Risiko, um die Angst zu verbergen. Er maskierte die Angst und
förderte damit den Mythos von der männlichen Stärke, die solche Gefühle nicht
zulässt. Antonio Negris Bedürfnis für die Wärme der proletarischen
Arbeitergemeinschaft enthüllt SEIN Bedürfnis nach Wärme; es ist eine Projektion,
die er mit all den Intellektuellen teilt, die die Realität der Arbeitswelt nicht
kennen.... Das einzig eindeutige an einem solchen Text ist, dass die Terroristen
den Tod wollen, weil sie dem Leben mißtrauen und es hassen.
Gleichzeitig ist diese Destruktivität auch ein Hilferuf. Aber da die angepasste
Welt nur Bestrafung kennt, reagiert sie nur auf die Rebellion, nicht auf den
Hilferuf, und das auf völlig unangemessene Weise, die nur zu einem Anwachsen der
blinden Zerstörungswut führt. (S 135)
Der totalitäre Geist ist besessen von der Notwendigkeit, in
einer einfachen, klaren Welt zu leben. Alles Subtile, jeder Widerspruch, jede
Komplexität erschreckt und verwirrt ihn und wird ihm unerträglich. Er versucht
also, das Unerträgliche zu überwinden durch das einzige Mittel, das er in der
Hand hat: die Gewalt. (Jacobo Timerman in 'Wir brüllten nach innen' laut Arno
Gruen in 'Der Wahnsinn der Normalität', S 136)
"Wie kommen Leute wie du dazu zu meinen, sie wüßten alles... Wenn die Regierung
ihre Politik festgelegt hat, warum glaubst du, es besser zu wissen? Ihr
Intellektuellen lebt in einer Traumwelt, trotzdem meint ihr, alles besser zu
wissen als die Leute, die alles bedacht und ihre Entscheidungen getroffen
haben." Der Gefangene sagt plötzlich zu sich selber, diese Kreatur kann mich
nicht wirklich treffen. Sie kann mich nicht retten, deshalb kann sie mich auch
nicht zerstören. Diese Kreatur ist bedeutungslos, sie ist nicht real. Nur ich
selbst bin die Realität. (Wole Soyinka, 1986 Literaturnobelpreisträger, der im
Gefängnis saß, weil er eigenständig dachte, zitiert anfangs seine Peiniger, laut
Gruen in 'Der Wahnsinn der Normalität', S 134)
Beide, der Konformist und der Rebell, benötigen einen äußeren Feind. Dieses
Bedürfnis macht es oft unmöglich, zwischen wirklichen und halluzinierten
Bedrohungen zu unterscheiden. Seit 1917 fürchtet der Westen die rote Revolution.
Tatsächlich aber waren die westlichen Demokratien nach dem ersten Weltkrieg vom
Faschismus, nicht vom Kommunismus bedroht. Dies wurde geleugnet, bis es zu spät
war. [...] Konformismus verträgt sich mit jeder Ideologie. Er findet sich
überall dort, wo Macht ist. Weder der Konformist noch der Rebell stehen in der
Realität eines lebendigen Lebens. Weil sie sich nie als wirkliches Selbst
geliebt haben, wissen sie nichts über Leben und Tod. Beide halten sich für
unsterblich. Ihr Größenwahn nährt die Illusion einer überhistorischen
Fortexistenz. Beide glauben weiterzuleben in den Monumenten, die sie sich
gesetzt haben. Für den Konformisten sind es die steinernen oder eisernen
Monumente der Mächtigen, denen er dient, für den Rebellen die eigenen
"großartigen" Taten. (Gruen weist auf dieser Seite des Buches auch darauf hin,
dass er mit dem Rebellen nicht den Revolutionär im Sinne Erich Fromms, der sein
Bündnis mit der Autorität und die dazugehörigen Wünsche, andere zu beherrschen,
überwunden hat, meint, Anm.) (S 137)
Sie wussten ganz im Gegenteil, dass Schmerz und Leid den Entschluss verstärken, sich NICHT zu unterwerfen. Solch eine Sehweise war aber den amerikanischen "Realisten" nicht möglich, denn ihre Realität war geprägt von den Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit mit der Macht hatten. Weil sie selbst als Kinder vor Schmerz und Demütigung in Anpassung geflüchtet waren, konnten sie sich andere Reaktionen gar nicht mehr vorstellen. (S 142)
Das Streben nach Macht wird zwanghaft, und die Unfähigkeit,
Schmerz zu ertragen, führt dazu, dass man um jeden Preis Schmerz vermeidet, denn
solche Menschen empfinden Schmerz als Demütigung. (S 143)
Genau diese Logik macht einen Feind erforderlich. Dieser liefert die
Rechtfertigung für die eigenen Machtbedürfnisse und für die Eroberungen, zu
denen der Selbsthass führt. Die zu erobernden Ziele können ein Berggipfel sein,
ein wissenschaftliches Problem, ein Naturschutzgebiet, das einer Autobahn im Weg
steht, oder ein Feind aus Fleisch und Blut. Man braucht einen Feind oder eine
"Herausforderung". Die meisten Menschen haben eine ähnliche Entwicklung und sind
deshalb anfällig dafür, sich auf diesem Weg Erleichterung von den inneren
Zweifeln und Hassgefühlen zu verschaffen. Nur allzu schnell fühlen sie sich von
äußeren Feinden bedroht. In welchem Ausmaß wir also solche äußeren Feinde zu
unserer eigenen Erleichterung benötigen - das entscheidet letztlich darüber, wie
bereit wir sind, einem Führer zu folgen, der uns einen passenden Feind
offeriert. (S 143)
Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte mißfallen, dass der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter die sensiblen, offenen und anfälligen Persönlichkeiten reicher und gesünder genannt hatte als die "robusten" Naturen, die sich allem anpassen können. Alle Vertreter der Macht als einer Ideologie des falschen Selbst fürchten sich vor innengeleiteten Menschen. Und sie verachten sie, weil sie diese Angst nicht zugeben können. Hierbei spielt es keine Rolle, ob einer politisch am linken oder rechten Flügel angesiedelt ist. Überall ist es Machtbesessenheit und nicht Offenheit für die Realität in ihren reichen und lebendigen Möglichkeiten. (S 143)
Prüfet alles, und das Beste behaltet!
...
Nein, so eine Vielzahl! Schicht liegt auf Schicht.
Kommt denn nicht EINMAL ein Kern ans Licht?
...Peer möchte weglaufen, kann es aber nicht mehr. Ein Knopfgießer kommt und
will ihn einschmelzen. Peer wehrt sich, und ein langer Disput entsteht:
Peer Gynt: Dies Schmelzkellen-Dasein, der pure Verzehr -
Dagegen setzt sich mein Alles zur Wehr!
Der Knopfgießer: Nun, lieber Peer, ob der Kleinigkeit
Bedarf es doch wahrlich keinen Streit.
Du selbst warst DU nie doch - was also steht
Auf dem Spiel, wenn's zu Ende geht?
...
Peer Gynt: Eine Frage noch, Mann.
Was ist dieses "sein, der man ist" im Grunde?
Der Knopfgießer: Eine seltsame Frage, besonders im Munde
Von einem, der vorhin -
Peer Gynt: Nur kurz: sag an!
Der Knopfgießer: Sei du selber, das meint: geh dir selbst an den Kragen.
Das erinnert stark an den Vers von Jakob Böhme: "Wer nicht stirbt, eh er stirbt,
der verdirbt, wenn er stirbt." ... Menschen wir Peer Gynt, die nach den äußeren
Erscheinungsbildern leben, haben Angst, ihr Gehäuse zu verlieren. Erst wenn sie
sterben, also ihr Rollenspiel aufgeben, finden sie einen Weg zur Lebendigkeit.
...Die Peer Gynts aber, die nie einfach Menschen gewesen sind, haben sich selbst
ausgelöscht. Peer Gynt erkennt das endlich, wenn er ausruft:
Nie dahin sehn! Da ist gähnendes Nachten. -
Lang schon tot, eh ich starb, muss ich mich erachten.
In einem letzten Aufbäumen versucht er, sowohl dem Knopfgießer als auch Slovejg
zu entkommen. In seiner Verzweiflung fragt er Slovejg (das Mädchen, von dem Peer
geliebt wurde, Anm.) mehrmals:
Wo war ich, ich selbst, keinem sonst zu vergleichen?
Und Ibsen bietet das scheinbar Unmögliche an: die Rettung seiner Seele durch die
Liebe, die er zurückwies. Slovejg antwortet ihm:
In meinem Glauben, Hoffen und Lieben warst du.
...Ibsen gibt uns klar zu verstehen, dass die Macht des Mitgefühls den väterlich
strengen Zuchtmeister überwindet und das Gegengift zum männlichen Mythos ist.
Slovejg gelingt es, Peer zu öffnen für ihr Mitgefühl. Damit kann er seiner
Flucht vor sich selbst ein Ende machen.
'Peer Gynt' handelt von einem Mann, der sein ganzes Leben lang herauszufinden
versuchte, worüber er herrschen sollte, um am Ende festzustellen, dass sein
wahres Königreich einzig und allein das war, was er verschmäht hatte: das eigene
Selbst.
(Gruen bezieht sich auf Henrik Ibsen's Stück 'Peer Gynt' in ..., Auszüge von den
Seiten 174-177)
Er hält seine Fassade aufrecht und ist so erfolgreich in seiner Manipulation, die inneren Widersprüche anderer für sich zu nutzen, dass er dieses Schema kaum verlassen kann. (S 177)
Denn man steht nie ganz ohne Mitverantwortung und Mitverpflichtung in er Gesellschaft, der man angehört. (Henrik Ibsen an seinen deutschen Übersetzer, laut Gruen auf S 177)
Der sogenannte Neurotiker oder der Schizophrene, aber auch die kreative Persönlichkeit haben Zugang zum Unbewussten. Sie erleben es nicht als so völlig fremd und beziehungslos, sondern als etwas, das im Zusammenhang steht mit den inneren und äußeren Vorgängen. (S 178)
Die Bereitschaft, die Regeln höher zu achten als das Leben, macht die unheilige Allianz von Konformist und Psychopath möglich. (S 184)
Man kann das Leben auf nichtssagende Statistik reduzieren, man kann es aber auch den technischen Neuerungen unterwerfen - der sicherste Weg, sich keine Rechenschaft mehr über das ablegen zu müssen, was man tut. (S 186)
Das Paradoxe daran ist, dass wir in einer Welt leben, in der die Informationsdichte und Informationsgeschwindigkeit so hoch ist wie nie zuvor. Information ist verfügbarer denn je. Doch sie wird immer nur in Bruchstücken geboten, ohne die Verknüpfung mit dem Ganzen des Lebens. Also ist sie auch zu einer schnell verderblichen Ware geworden. Diese Schüler waren nicht deshalb ahnungslos, weil es ihnen an Informationsmöglichkeiten fehlte, sondern weil die verfügbare Information zusammenhanglos war und das Leiden ausklammerte. Darum konnten die Schüler nicht erkennen, dass die Ereignisse (in diesem Fall von Vietnam, Anm. ob) etwas mit ihnen selbst zu tun hatten. Menschen unter einem totalitären Regime sind weitaus wachsamer, weil sie sich die spärlich fließende Information mit großer MÜhe beschaffen müssen. (S 188)
"Der Kampf der Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen", schrieb Milan Kundera in seinem 'Buch vom Lachen und Vergessen'. Wenn ein solcher Kampf freilich gar nicht geführt werden kann, weil die offiziellen Informationen bereits entsprechend präsentiert werden, ist Erinnerung von vornherein nicht möglich... Das Paradoxe daran ist, dass wir in einer Welt leben, in der die Informationsdichte und Informationsgeschwindigkeit so hoch ist wie nie zuvor. Information ist verfügbarer denn je. Doch sie wird immer nur in Bruchstücken geboten, ohne die Verknüpfung mit dem Ganzen des Lebens. Also ist sie auch zu einer schnell verderblichen Ware geworden. Diese Schüler waren nicht deshalb ahnungslos, weil es ihnen an Informationsmöglichkeiten fehlte, sondern weil die verfügbare Information zusammenhanglos war und das Leiden ausklammerte. Darum konnten die Schüler nicht erkennen, dass die Ereignisse (in diesem Fall von Vietnam, Anm. ob) etwas mit ihnen selbst zu tun hatten. Menschen unter einem totalitären Regime sind weitaus wachsamer, weil sie sich die spärlich fließende Information mit großer MÜhe beschaffen müssen. (S 188)
Textstellen und Seitenangaben stammen aus dieser Version des Buches "Der Wahnsinn der Normalität" von Arno Gruen